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Adelheid Kastner als Gerichtsgutachterin, hier im "Kellerleichen-Prozess": "Wut darf nicht mit Aggression gleichgesetzt werden."

Foto: APA / Fohringer

STANDARD: Wann waren Sie zum letzten Mal so richtig wütend?

Kastner: Die letzte Rechnung vom Installateur hat mich definitiv wütend gemacht. Die Therme war nach der vermeintlichen Reparatur immer noch kaputt. Da habe ich angerufen und deponiert, dass ich nicht zahle. Trotzdem habe ich eine Rechnung und gleich eine Mahnung inklusive Mahngebühr für die Rechnung bekommen.

STANDARD: Wir erleben Wutbürger, es poltert die Wut-Oma, Sie schreiben ein Wut-Buch. So richtig "auszucken" und den Ärger frei herauslassen scheint im Moment in zu sein, oder?

Kastner: Wut darf nicht mit Aggression gleichgesetzt werden. Auszuzucken und wo dagegenzuhauen ist eine aggressive Handlung, Wut hingegen ist ein Gefühl und keine Handlung. Und der Begriff Wutbürger ist für meinen Geschmack ein ziemlicher unglücklicher. Da geht es nicht um Wut, sondern um Missfallensäußerungen, die aber nichts verändern. Wut verändert immer etwas.

STANDARD: Durchaus. Meist ist das Gegenüber dann beleidigt und wird wütend.

Kastner: Bei Wut, richtig eingesetzt, geht es darum, Grenzen aufzuzeigen. Dem anderen wird vermittelt, dass es so nicht weitergeht. Wut, richtig und sinnvoll eingesetzt, bereinigt eine Situation. Und ist dann verflogen. Wut ist aber keine Weltanschauung, denn wer Wut vor sich herträgt, hat ein grobes Problem.

STANDARD: Sie kritisieren in Ihrem Buch, dass wir heute in einem "zu engen Korsett der Gefühlsäußerungen" leben. Was engt die Gefühle so ein?

Kastner: Es ist der Ausdruck eines Gefälligkeitsdiktats, dem wir alle heute mehr oder weniger unterliegen. Der anständige Mensch hat jung, schön, fit, erfolgreich und entspannt zu sein. Sonst hat er ein Problem. Alles, was nicht diesem Idealbild entspricht, ist irgendwie auszumerzen. Das fängt schon bei den Schönheitsoperationen an: Renée Zellweger kennt sich vermutlich selbst nicht mehr, wenn sie in den Spiegel schaut. Und bei all dem irrwitzigen Perfektionsstreben bleibt nur noch wenig Platz für authentische Gefühle.

STANDARD: Kleinkinder oder Jugendliche sind mitunter regelrecht emotionsgebeutelt. Mit zunehmendem Alter nimmt dies ab, und es steigt im Idealfall die Kompetenz, damit umzugehen. Ist der brave Bürger, der kontrollierte Mensch nicht auch entwicklungspsychologisch vorprogrammiert?

Kastner: In der Erziehung sollte ein adäquater Umgang mit Emotionen geprägt werden. Ein Problem entsteht, wenn man uns einredet, dass man manche Emotionen gar nicht mehr haben soll. Es dient aber der Kommunikation, wenn Menschen auch Wut äußern.

STANDARD: Wie sieht adäquate Wut aus?

Kastner: Wenn ich zu jemandem sage: "Pass auf, so geht das nicht!", und nicht: "Ich ruf jetzt meinen Anwalt an!" Es hat allerdings fast den Anschein, dass es ein Zeichen von Schwäche ist, sich zu zeigen. Stellt man sich wütend vor jemandem hin, präsentiert man seine eigene Verletzlichkeit.

STANDARD: Ist es nicht dennoch auch eine Typfrage - der eine ist ein "Häferl", der andere ein "Lamm"?

Kastner: Natürlich. Wir kommen alle mit einer unterschiedlichen Grundausstattung - auch im Bereich Wut - auf die Welt. Manche haben da eine relativ niedrige, manche eine höhere Schwelle. Dass Choleriker glücklicher sind und mitunter länger leben, hängt nicht damit zusammen, dass sie cholerisch veranlagt sind, sondern dass sie ihre Emotionen nicht unterdrücken. Nichtcholeriker könnten wahrscheinlich genauso glücklich sein, wenn sie das täten.

STANDARD: Der Choleriker ist glücklich, und das Umfeld leidet. Ist das ein erstrebenswertes Ziel?

Kastner: Das ist natürlich nicht gemeint. Ziel ist vielmehr, die Wut in angemessener Form, aber deutlich zu artikulieren, und zwar dort, wo sie hingehört.

STANDARD: Was unterscheidet also gesunde von ungesunder Wut?

Kastner: Wut ist ein Motor für Veränderung und bringt, wie Peter Handke das kürzlich formulierte, auch gute Sachen hervor. Platziert man Wut sinnvoll und angemessen, ist sie auch gesund. Ungesund ist, wenn Wut zur Aggression wird oder sich in somatische Erkrankungen wandelt. Wobei man die Aggression auch definieren muss: Es ist noch nicht unerträglich, wenn man etwas lauter "Du, jetzt reicht's!" sagt. Das muss ein normaler Mensch aushalten.

STANDARD: Die Ärgerhormone machen den Körper kampfbereit. Welchen Spielraum gibt es zwischen "Explodieren" oder "Runterfressen"?

Kastner: Da liegt noch ganz viel dazwischen. Schon Mark Twain hat gesagt: "Wenn du wütend wirst, zähl bis vier." Das gibt Zeit zu überlegen. Zentrales Thema ist, dass man die Wut so formuliert, dass es der andere auch begreift. (Markus Rohrhofer, DER STANDARD, 3.11.2014)