Das Lager der PKK liegt in den Bergen des Kandil-Gebirges an der Grenze des Irak zum Iran. Die Zufahrtsstraßen zu dieser Region, die etwa so groß ist wie Tirol, werden von eigenen Posten kontrolliert. Die Stellungen sind über das gesamte Gebiet verteilt und von oben kaum auszumachen. Der letzte Luftangriff der Türkei erfolgte Ende 2012. Aufklärungsflugzeuge und Kampfjets der Türkei überfliegen regelmäßig diese Gegend. Cemil Bayik, der derzeit an der Spitze der PKK steht, empfängt den STANDARD in den Bergen. Er ist der Stellvertreter von Abdullah Öcalan, der seit 1999 in der Türkei in Haft sitzt. Bayik, dessen Deckname "Cuma" lautet, gilt als absolut loyal zu Öcalan, innerhalb der Partei ist er aufgrund seines autoritären Führungsstils nicht unumstritten.

Auf Bayik wurden etliche Mordanschläge verübt, er wird ständig von bewaffneten Guerillakämpfern begleitet und ändert ständig seinen Aufenthaltsort. Da Bayik auch auf der Interpol-Liste steht, ist sein Bewegungsspielraum international ziemlich eingeschränkt. Von den eigenen Leuten wird der 59-Jährige, über dessen Leben wenig bekannt ist, mit großer Ehrfurcht behandelt. Er wirkt freundlich, tritt aber sehr bestimmt auf. Berüchtigt sind seine mehrstündigen Reden, die er vor den Freunden hält. Dass man bei einem Interview auch Fragen stellt, ist für ihn nicht ganz selbstverständlich und sorgt für Irritationen. Er ist offenbar ein Freund der großen Erzählung und spannt auch im Interview einen großen Bogen, der schwer zu unterbrechen ist. Dementsprechend lang dauerte das Interview, dessen kurzen Auszug wir hier wiedergeben.

"Als Nächstes wäre die Türkei dran, sie muss den Kurden einen eigenen Status geben", sagt Cemil Bayik
Wolf-Dieter Grabner

STANDARD: Welche Lehren ziehen Sie aus der Auseinandersetzung um Kobane?

Bayik: Die Türkei schürt den Krieg in Kobane, sie unterstützt die Truppen der IS. Spezialkräfte der Türkei arbeiten mit der Terrormiliz zusammen. In Südkurdistan (der irakische Teil Kurdistans, Anm.) ist eine autonome Region entstanden, in Rojava (syrischer Teil Kurdistans, Anm.) ist das demnächst der Fall. Als Nächstes wäre die Türkei dran, sie muss den Kurden einen eigenen Status geben. Das versucht die Türkei mit allen Mitteln zu verhindern. Daher will sie die entstandenen Strukturen in Syrien zerstören, dazu benutzt sie die IS. Über die IS will die Türkei ihren Einfluss im Nahen Osten stärken. Dabei sollen die Kurden geopfert werden. Jeder hat erwartet, dass Kobane innerhalb einer Woche fallen wird. Die Kurden sollten massakriert und vertrieben werden. Das gelang nicht. Der Widerstand ist extrem stark. Wir werden die Stadt nicht aufgeben.

STANDARD: Die Türkei hat immerhin Peschmerga aus dem Irak nach Kobane gelassen, um die kurdisch-syrischen YPG-Kämpfer zu unterstützen.

Bayik: Nachdem der Plan der Türkei zum Fall Kobanes nicht aufgegangen ist und der internationale Druck durch die USA und Europa immer größer geworden ist, hat sie ihre Taktik geändert. Ein Teil dieser Taktik ist, dass sie Peschmerga und Vertreter der Freien Syrischen Armee nach Kobane lässt. Zuerst hatte Erdogan gefordert, dass die internationale Allianz die YPG und die PKK ebenso bekämpfen müsse wie die IS. Das haben die Amerikaner nicht akzeptiert, sie haben die YPG unterstützt. Die USA haben einen großen Anteil daran, dass die Türkei ihre Taktik ändern musste.

Untergebracht sind wir in einer Erdhöhle unter einer Stellung. Klaustrophobie wäre hier ein echtes Problem. Der mitgebrachte Schlafsack erweist sich als Segen. Die Guerillas bezeichnen diese Stellung als ihr Pressezentrum. Ob das im Scherz oder ernst gemeint ist, lässt sich nicht eruieren. Wie viele Guerillas der PKK in dieser Gegend unterwegs sind, bleibt ein Geheimnis, wahrscheinlich sind es an die 2000, viele von ihnen sind weiblich.
Wolf-Dieter Grabner

STANDARD: Gibt es eine direkte Zusammenarbeit der USA mit der YPG?

Bayik: Ja, die gibt es, die Amerikaner haben sogar Waffen geliefert.

STANDARD: Dann ist das auch eine diplomatische Niederlage der Türkei?

Bayik: Ja, das ist eine ganz offene Niederlage. Es gibt starke Widersprüche zwischen den Vorhaben der Türkei, der Amerikaner und Europas. Die USA und Europa wollen, dass gegen die IS gekämpft wird, die Türkei unterstützt dagegen die IS und will gegen die Kurden vorgehen. Die Türkei ist dadurch eine Last für die Amerikaner und Europa geworden. Jetzt probiert es die Türkei anders. Sie hat gesehen, dass die Kurden durch die Angriffe auf Kobane zusammengerückt sind und gestärkt wurden. Jetzt hofft sie, durch die Anwesenheit der Peschmerga in Kobane einen Keil zwischen die Kurden zu treiben.

"Die Türkei wollte über das Hereinholen der Peschmerga eine Auseinandersetzung unter den Kurden provozieren und die Peschmerga und die YPG gegeneinander ausspielen."
Wolf-Dieter Grabner

STANDARD: Misstrauen Sie den irakischen Peschmerga?

Bayik: Nein, unsere Kräfte kämpfen in vielen Gebieten gemeinsam Seite an Seite. Wir sind zusammengerückt, das hat auch bei der Bevölkerung zu einer positiven Reaktion geführt. Deswegen begrüßen wir auch, dass die Peschmerga unseren Kampf in Kobane unterstützen. Die IS hat etwas Gutes für die Kurden bewirkt, sie hat sie einander wieder nähergebracht. Die Türkei wollte über das Hereinholen der Peschmerga eine Auseinandersetzung unter den Kurden provozieren und die Peschmerga und die YPG gegeneinander ausspielen. Das hat nicht funktioniert, die Kurden fallen auf dieses falsche Spiel nicht herein. Wir kämpfen in Kobane für die Menschlichkeit. Die IS ist gegen die Menschlichkeit. Die IS ist gegen die Frauen. Frauen zu verkaufen heißt auch, die Menschlichkeit zu verkaufen. Die Frauen zu versklaven heißt auch, die Menschlichkeit zu versklaven. Die IS hat nicht nur vor, einige Regionen zu besetzen und unter ihre Kontrolle zu bringen, sie führt ethnische Säuberungen durch. In Sengal haben sie die Jesiden massakriert und vertrieben, in der Gegend von Mossul haben sie Christen und andere Minderheiten massakriert. Das Gleiche versuchen sie in Kobane, dort wollen sie die Kurden vertreiben. Wir werden das nicht zulassen. Das Schicksal von Kobane wird auch das Schicksal der IS besiegeln. Aber eines muss man wissen: Die Türkei hat der IS die Tür nach Kobane aufgemacht.

"Die Politik, die Erdogan verfolgt, führt zu einer Isolation der Türkei und provoziert einen Bürgerkrieg im Land."
Wolf-Dieter Grabner

STANDARD: Sie erheben schwere Vorwürfe gegen die Türkei. Was bedeutet das für den Friedensprozess zwischen der Türkei und der PKK?

Bayik: Wir können den Friedensprozess nicht getrennt von Kobane betrachten. Die Kurden in allen Landesteilen sind aufgestanden und unterstützen den Kampf in Kobane. Es ist ein Kampf für die Menschlichkeit, für die Brüderlichkeit der Völker, für die Vielseitigkeit der Religionen. Die IS ist gegen diese Werte, daher richtet sich auch die Unterstützung der IS gegen diese Werte. Wenn die AKP (Partei des türkischen Präsidenten Erdogan, Anm.) das Vorhaben der IS unterstützt, ist es sehr naiv, von der AKP zu erwarten, dass sie für den Frieden ist. Die Politik, die Erdogan verfolgt, führt zu einer Isolation der Türkei und provoziert einen Bürgerkrieg im Land.

STANDARD: Wird die PKK den Friedensprozess dennoch fortsetzen?

Bayik: Abdullah Öcalan hat den Friedensprozess trotz widrigster Umstände vorangetrieben, aber die Bemühungen sind einseitig. Unser Vorhaben ist es, die Waffenruhe beizubehalten und das Problem zu lösen. Von der AKP kamen nur leere Versprechungen. Sie hat alle belogen, sie hat kein Interesse daran, den Konflikt zu lösen. Sie setzt auf Zeit, um die PKK zu eliminieren. Die Türkei duldet keinen Widerstand, sie geht auch hart gegen die Zivilbevölkerung vor, gegen Demonstrationen, kritische Journalisten und die Opposition. Die AKP versucht, den gesamten Staatsapparat unter ihre Kontrolle zu bringen.

Cemal Bayik im Interview mit dem STANDARD.

STANDARD: Welche Konsequenzen zieht die PKK aus dieser Situation? Der Friedensprozess ist aus ihrer Sicht offenbar in einer Sackgasse.

Bayik: Der Friedensprozess ist in einer sehr kritischen Phase. Wir wollen Bewegung, aber der türkische Staat ist nicht bereit, einen Schritt zu setzen. Wir unterstützen den zivilen Widerstand. Falls die Kundgebungen, die es im ganzen Land gibt, angegriffen werden, falls das Volk angegriffen wird und zu Schaden kommt, werden wir nicht zögern, die Guerilla wieder einzusetzen. Es ist nicht unsere Absicht, wieder in den Krieg gegen die Türkei zu ziehen. Aber einseitige Bemühungen gibt es nur bis zu einer gewissen Grenze. Die Welt ist Zeuge, dass wir zu Newroz 2013 (kurdisches Neujahrsfest, Anm.) gesagt haben, dass wir einen Waffenstillstand wollen, dass wir das Problem friedlich lösen wollen. Aber wenn uns die Türkei keine Wahl lässt, werden wir uns wehren.

Wolf-Dieter Grabner

STANDARD: Wie lange geben Sie der Türkei noch Zeit?

Bayik: Wenn wir weiter warten, käme das einer Kapitulation gleich. Wir sind eine Bewegung, die aus der Unterdrückung der Kurden entstanden ist. Niemand kann uns zur Kapitulation zwingen, das werden wir niemals akzeptieren. Um Kobane entsteht eine neue Freiheitsbewegung, die Kurden versammeln sich hinter dieser Stadt. Dieser Widerstand beeinflusst auch die Öffentlichkeit und die internationale Gemeinschaft. Das ist auch ein Aufstand gegen die Türkei. Es wird endlich auch ernsthaft darüber diskutiert, die PKK endlich von der Terrorliste zu streichen. Wir wollen den Friedensprozess fortsetzen, das ist keine Taktik. Wir sind der Ansicht, dass man dieses Problem nur friedlich lösen kann. Wir haben jahrelang mit der Türkei Krieg geführt. Weder die Türkei noch wir haben mit diesem Krieg ein Ziel erreicht. Mit dem Krieg kann es keine Lösung geben. Daher muss es eine politische Lösung geben. Jetzt ist der Punkt gekommen, an dem es Bewegung geben muss. Deswegen schlagen wir vor, dass eine dritte Kraft diesen Prozess beobachtet.

STANDARD: Wer kann diese dritte Kraft sein? Die USA? Immerhin gibt es rund um die Auseinandersetzung um Kobane erstmals auch direkte Kontakte zu den USA.

Bayik: Das können die USA sein, das kann auch eine internationale Delegation sein. Wir brauchen einen Vermittler, wir brauchen Beobachter. Wir würden auch die Amerikaner akzeptieren, aus unserer Sicht bewegt es sich in diese Richtung.

"Wir glauben, dass dieser Kampf auch das Bild der PKK zurechtrückt."
Foto: Wolf-Dieter Grabner

STANDARD: Die Kurden erleben aufgrund des Kampfes in Kobane eine Welle der Sympathie. Kann man das für den Friedensprozess nutzen?

Bayik: Wir glauben, dass dieser Kampf auch das Bild der PKK zurechtrückt. Das Kurden-Problem ist nicht nur ein Problem der Türkei, das ist ein internationales Problem, das muss auch international gelöst werden. Die PKK wird Teil dieser Lösung sein. Die Kurden sind eine treibende Kraft im Nahen Osten. Die Organisationsfähigkeit, die die Kurden mittlerweile erlangt haben, ist maßgeblich auf den Einfluss der PKK zurückzuführen. Wenn sich die Kurden nicht daran beteiligen, wenn die Kurden nicht eingebunden werden, dann werden die Probleme im Nahen Osten nicht gelöst werden können. Um eine Neugestaltung des Nahen Ostens zu erreichen, muss das Kurdenproblem gelöst werden. Eine entscheidende Rolle dabei spielen die Frauen. Sie kämpfen im wahrsten Sinne an der vordersten Front. (Michael Völker, DER STANDARD, 3.11.2014)