Die Augen sind blutrot unterlaufen und stieren zu Boden, während der Bursche versucht, Worte zu formen. Die Silben fügen sich wirr aneinander, und immer wieder greift der 18-Jährige an sein Stirnband, zieht es sich über den Mund und atmet tief ein. Es ist mit Nitroverdünnung getränkt und verströmt einen scharfen Geruch. So wie der junge Mann inhalieren viele Kinder auf den Straßen El Altos das Gift, das sie betäubt und lethargisch macht.

El Alto ist ein Vorort des bolivianischen Regierungssitzes La Paz. Es ist eine verkehrte Welt auf rund 4000 Meter Seehöhe. Leben in den meisten Städten der Welt die Reichen auf den Bergen, sind es in La Paz die armen Menschen, die den höhergelegenen Vorort bewohnen – und er wächst stetig. In den vergangenen 20 Jahren verdoppelte sich die Einwohnerzahl El Altos auf 850.000 Bewohner. Etwa 70 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze. Rund 500 von Boliviens 3700 Straßenkindern bestreiten ihr hartes Leben auf den staubigen Straßen der Stadt.

Jugendliche inhalieren versteckt hinter einer Hausmauer Nitroverdünnung. Unter ihnen erstreckt sich der bolivianische Regierungssitz La Paz.
Foto: Maya Paya Kimsa

Auf Tauchgang

Wenn die Kinder die blauen Jacken mit dem weißen Logo der Organisation "Maya Paya Kimsa" in der Menschenmenge der belebten Straßen ausmachen, dann entspannen sich ihre Gesichtszüge kurz. Die Menschen, die in den Jacken stecken, sind Sozialarbeiter, Psychologen oder Pädagogen und Teil des ersten niederschwelligen Hilfsangebots des Landes für "Kinder und Jugendliche in der Situation Straße".

Der Name der NGO ist aus der indigenen Sprache der Aymara entnommen und bedeutet "Eins, zwei, drei". Auf ihren "Tauchgängen" – wie die Streifzüge durch El Alto genannt werden – sprechen die Mitarbeiter Kinder und Jugendliche an, um sie in das Tageszentrum der Organisation einzuladen. Manchmal muss man erst einen Trick anwenden und Fragen stellen wie "Ich habe den Weg zurück zu Maya Paya Kimsa vergessen, kannst du ihn mir zeigen?", um die Minderjährigen dazu zu bewegen, den Mitarbeitern zu folgen.

Mitarbeiter von Maya Paya Kimsa bei einem ihrer regelmäßigen "Tauchgänge" durch El Alto.
Foto: Maya Paya Kimsa

Kindern auf Augenhöhe begegnen

Gegründet wurde die Organisation im Jahr 2003 von dem Österreicher Martin Berndorfer, der sein Diplomarbeitsthema für die Sozialakademie Wirklichkeit werden ließ. In seinem oberösterreichischen Heimatdorf Haslach/Mühl sammelten die Bewohner binnen drei Monaten 10.000 Euro Spendengelder und ermöglichten so die Anfänge der Hilfsorganisation. Auch die Österreichische Dreikönigsaktion, Hilfswerk der Katholischen Jungschar, war schnell mit an Bord. "Zu Beginn arbeiteten wir von meiner Wohnung aus und hatten fünf Plastikbecher und einen Fußball. Damit gingen wir auf die Straße", erzählt Berndorfer.

Mit dem Projekt will er den Kindern auf Augenhöhe begegnen. Die vorhandenen Kinderheime sind mit ihren strikten Regeln und Tagesabläufen eine zu extreme Umstellung für viele der Kinder. Sie fliehen bereits am nächsten Tag wieder zurück auf die Straße. Durch Gespräche und das Aufbauen von Vertrauen versuchen die Mitglieder von Maya Paya Kimsa einen Zugang zu den Kindern auf der Straße zu bekommen. Gemeinsam mit ihnen entwickeln sie schließlich Möglichkeiten, diese zurück in ein geregeltes Leben zu führen. Dabei begleitet ein Mitarbeiter einen Fall von Anfang an allein und wird so zur Bezugsperson.

Ein Mitarbeiter von Maya Paya Kimsa ist auch gleichzeitig die Bezugsperson für ein Kind oder einen Jugendlichen in der Situation auf der Straße.
Foto: Maya Paya Kimsa

Die 18-jährige Keyla

Die Sozialarbeiterin Marina Gironda Choque ist die Betreuerin der 18-jährigen Keyla, die im Vorjahr aus einem Heim für Mädchen geflohen ist und seitdem auf der Straße lebt. Mit leiser Stimme erzählt Keyla schüchtern, dass sie am liebsten Kosmetikerin werden möchte. Es gefalle ihr, die Nägel der anderen Mädchen im Tageszentrum zu lackieren, sie suche gern passende Farben für sie aus. Von zu Hause geflohen sei sie, weil sie es nicht mehr ausgehalten habe. Sie wollte ihre kleine Schwester mitnehmen, doch die müsse noch zur Schule gehen. Die 18-Jährige wechselt das Thema.

Gironda Choque weiß mehr. Die Sozialarbeiterin weiß, dass Keylas Mutter ihren Vater im Gefängnis kennengelernt hat, wo er seit 18 Jahren wegen Mordes sitzt. Die Mutter ist HIV-positiv, die Tochter hat das Virus nicht bekommen. Keyla hat einen Freund auf der Straße, der David heißt. Beide betteln, um ihren Unterhalt zu bestreiten. Das Paar wohnt in einer Herberge in der Stadt. Die Chancen, dass die beiden den Absprung schaffen, stehen laut Gironda Choque allerdings gut. Keyla und David wollen Arbeit finden, nur er schnüffelt regelmäßig, Keyla ist von der Nitroverdünnung nicht abhängig. Außerdem prostituiert sie sich nicht, wie das viele andere Mädchen auf den Straßen El Altos machen.

Manche Kinder schlafen auf den Bäumen und binden sich mit Gürteln an den Ästen fest, um in der Nacht nicht herunterzufallen.
Foto: Maya Paya Kimsa

El Altos Straßenstrich

Ab 23 Uhr, wenn es rund um die nackten Ziegelwände dunkel wird, drängen sich Gruppen von Männern aus dem Vorort und La Paz in den beiden Straßen, die den Strich der Stadt beherbergen. An kleinen, schmuddeligen Straßenständen kippen sie den Maca-Saft aus Pappbechern. Der Knolle wird eine natürliche aphrodisierende Wirkung nachgesagt. Aus den engen Hauseingängen der Geschäfte, die bei Nacht zu Bordellen umfunktioniert werden, strömt ein abgestandener Geruch, und die potenziellen Freier drängen sich bis nach draußen.

"In den Bordellen sind die jungen Frauen, die noch nicht lange als Prostituierte arbeiten", erklärt Psychologe Franz Guamán Duval von Maya Paya Kimsa. Die Mädchen, die erst vor kurzem in die sexuelle kommerzielle Gewalt gezwungen wurden, verdienen pro Freier rund 100 Bolivianos, was etwa 11,5 Euro entspricht. Mädchen, die schon länger auf den Strich gehen, können oft nur noch 25 Bolivianos oder 2,8 Euro verlangen. Bis zu 20 Männer missbrauchen die oft Minderjährigen pro Nacht. Mit Hygiene, Verhütung und Geschlechtskrankheiten sind die wenigsten Straßenmädchen vertraut. Bei Maya Paya Kimsa versucht man ihnen deshalb einmal die Woche beim Mädchentreff beizubringen, dass sie sich regelmäßig duschen und die Unterwäsche wechseln sollen. An einem Penismodell zeigen die Sozialarbeiterinnen, wie man richtig ein Kondom überzieht.

Auf der Straße passieren immer wieder ungewollte Schwangerschaften. Die Kinder leben dann meist mit ihren Eltern weiterhin obdachlos.
Foto: Maya Paya Kimsa

Lamaföten und illegale Abtreibungen

Ungewollte Schwangerschaften kommen auf den Straßen El Altos immer wieder vor. Allein rund um die Marktstände im Zentrum sieht man kindlich aussehende Mädchen, unter deren T-Shirts sich Babybäuche wölben. Entlang einer stillgelegten Tramlinie, dort, wo sich auf halbem Weg geteerte und Sandstraßen treffen, enden viele der Mädchen, die ihre Kinder nicht auf der Straße zur Welt bringen wollen. Hinter Garagentoren finden sich die "traditionellen Heiler" der Stadt. Dort gibt es Lamaföten für indigene Riten genauso zu kaufen wie illegale Abtreibungen. Die Straße grenzt gleich an das Stadtviertel, in dem sich die meisten Herbergen befinden. "El Alto hat fast keinen Tourismus, und doch findet sich an jeder Straßenecke ein Hostel", erzählt Patricia Marcela Arzabe Illanueva, die als Psychologin für Maya Paya Kimsa auf der Straße war.

Hinter den schäbigen Hausmauern der Herbergen befinden sich die Toilettenanlagen für den Straßenstrich und die Zimmer der Mädchen, die in die sexuelle kommerzielle Gewalt abgerutscht sind. Manche von ihnen arbeiten selbstständig, manche von ihnen haben einen Zuhälter, der auch oft der Hostelbesitzer ist. Die meisten Mädchen haben Mietschulden von umgerechnet knapp 60 Euro, was sie weiterhin in die Abhängigkeit der Betreiber zwingt und ihre Vergewaltigungsopfer werden lässt. Bei der Polizei finden diese Mädchen keine Hilfe. Zu korrupt ist der Polizeiapparat, zu gewalttätig die Beamten selbst. "Es kann passieren, dass ein Polizist die Mädchen in der Nacht auf sein Motorrad zieht und mit ihnen aus der Stadt fährt. Dann vergewaltigt er sie und lässt sie liegen", erzählt Duval. "Es gibt zwei Gefahren für Kinder in der Situation Straße in El Alto: das Stigma und die Polizei", fügt Berndorfer hinzu.

Weg von der Straße

Im vergangenen Jahr begleiteten die Mitarbeiter von Maya Paya Kimsa 237 Kinder und Jugendliche und führten rund 3000 Gespräche. 125 der Minderjährigen haben in dieser Zeit mindestens einmal versucht, von der Straße wegzukommen. Welche Faktoren über einen Rückfall entscheiden, ist von Kind zu Kind unterschiedlich. Meistens treiben sie jedoch der Drogenkonsum oder die emotionale Abhängigkeit zu anderen Straßenkindern wieder zurück. Manchmal ist der Abschied von der Straße aber auch für immer, und dann entspannen sich die Gesichter der Sozialarbeiter, wenn sie diese Jugendlichen auf der Straße erkennen und mit stolzem Lächeln grüßen. (Bianca Blei aus El Alto, derStandard.at, 29.12.2014)