Noch so ein Krieg des 20. Jahrhunderts. Grausam, absurd, Wunden reißend, die bis heute nicht verheilt sind. Ein Menschenschlachten mit 400.000 Toten auf algerischer, 35.000 Toten auf französischer Seite. Zahlen, so entsetzlich wie die derzeit bemühten Bilanzen des Ersten und Zweiten Weltkriegs oder auch des Vietnam- und Irakkriegs.

Seltsamerweise deckt sich diese Opferbilanz weitgehend mit einem anderen Ungleichgewicht, das die französische Kolonialverwaltung in Algerien aufrechterhalten hatte: Bei Wahlen in dem riesigen, tief in die Sahara reichenden Territorium hatte ein Franzose von Gesetzes wegen achtmal mehr Gewicht als ein Algerier. Diese Unterscheidung in ein "Kollegium" der weißen Europäer und eines der Eingeborenen - so damals der Sprachgebrauch - war nicht viel subtiler als die Apartheid am anderen, südlichen Ende des Kontinentes.

Toussaint rouge

In der Nacht auf den 1. November 1954 begann der Algerienkrieg mit einer Attentatsserie. Historiker sprechen von Toussaint rouge, rotem Allerheiligen.

Die Spirale des Krieges begann sich zu drehen. Es kam zu Massenverhaftungen, gezielten Tötungen von Zivilisten, furchtbaren Massakern. Paris beschloss auch die systematische Anwendung der Folter. Kolonialoffiziere wie der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen bevorzugten die "gégène". Das waren ursprünglich mobile Telefon-Generatoren, die mit Pedalen betrieben wurden und über die elektrischen Drähte beliebig starke Stromstöße in die angeschlossenen Körperteile jagten. "La gégène" wurde zum Symbol des Krieges: Vom rationalen französischen Geist ausgedacht wie einst die Guillotine, ein sauberes und effizientes Herrschaftsinstrument, das letztlich nur die Leidenschaft des Volksaufstandes anheizte.

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Dezember 1954, kurz nach Beginn der "Ereignisse": Französisches Militär eskortiert Flüchtlinge aus einer umkämpften Bergregion.
Foto: Corbis/Bettman

Retter Charles de Gaulle

Die Kolonialmacht Frankreich war in jener Zeit am Wanken. In Diên Biên Phu im damaligen Indochina (Vietnam) hatte sie 1954 eine entscheidende Niederlage erlitten, und zwei Jahre später, 1956 in der Sueskrise, sollte sie zusammen mit dem britischen Königreich den "Orient" verlieren. Die "Ereignisse" in Algerien, wie die Franzosen beschönigend sagten, brachten in Paris die Vierte Republik zu Fall. Verzweifelt rief die Nation Charles de Gaulle zu Hilfe und vertraute ihm mit dem autoritären Präsidialregime der Fünften Republik ihre Geschicke an. Der Weltkriegsheld hielt dem Ansturm der schlecht ausgebildeten, aber frenetischen Kämpfer des algerischen Front de Libération Nationale (FLN) noch vier Jahre lang stand. Im März 1962 willigte er im Abkommen von Evian in den Rückzug der französischen Armee ein.

Im Juli 1962 feierten die Algerier im Überschwang ihre Unabhängigkeit. Hoffnungsvoll trat die neue Nation in die Moderne ein und rief den realen Sozialismus aus. Reiche Ölfunde versprachen eine blühende Zukunft. Doch die Aufbruchstimmung hielt nicht an. Denn Präsident Houari Boumédienne wandte eben das an, was er selbst kannte: das Elitedenken der Kolonialzeit sowie Sowjetwirtschaft. Statt Sozialismus gab es Selbstbereicherung: Unter dem Deckmantel des Befreiungsmythos kontrollierte die Militär- und FLN-Clique die Macht und zweigte die Öl- und Gasmilliarden in die eigenen Taschen ab.

Dem Volk blieb nicht viel. Ein Drittel der Erwachsenen kann bis heute nicht lesen noch schreiben, ein Viertel ist arbeitslos. 1990 erhielten die Fäden ziehenden Generäle an den Wahlurnen die Quittung für die soziale Not: 38 Millionen Einwohner führten die Islamische Heilsfront (FIS) zu einem Sieg im ersten Durchgang der Parlamentswahlen. Ein zweiter Durchgang fand nicht statt - den verhinderte die Regierung mit Unterstützung der Armee.

Erneuter Krieg

Die Aberkennung des FIS-Wahlsieges führte erneut zum Krieg zwischen der Armee und den jihadistischen Groupes islamiques armés (GIA). Nach zehn Jahren Terror und Gegenterror mit mehr als 100.000 Opfern, zumeist Zivilisten, rief der neue Präsident Abdelasis Bouteflika eine nationale Versöhnung aus. Versöhnt ist aber niemand. In Algerien grassiert vielmehr das "mal-vivre", das "schlechte Leben", wie es der auch im Westen bekannte Schriftsteller Boualem Sansal nennt.

Armut und Elend, Jugendarbeitslosigkeit und Kriminalität, Staatskorruption und Scheindemokratie. Gegen außen erweckt Algerien - anders etwa als die Nachbarländer Tunesien und Libyen - den Eindruck einer gewissen Stabilität. Bouteflika regiert dank einer Verfassungsänderung seit 15 Jahren. Im Arabischen Frühling 2011 rumorte es im ganzen Land. Sekundiert von der angegrauten FIS-Ikone Ali Benhadj, riefen Demonstranten in der Hauptstadt Algier "Boutef' Serrak" - der Präsident sei ein Dieb. Eine regelrechte Polizeiarmee von 30.000 Mann, zehnmal stärker als die Demonstranten, erstickte den algerischen Frühling aber im Keim.

Nie offiziell Friede

Zwischen Frankreich und Algerien herrscht weiterhin Eiszeit, die Länder haben nie offiziell Frieden geschlossen, nie auch nur ein Freundschaftsabkommen zustande gebracht. Die 1,5 Millionen Algerien-Rückkehrer, die Pieds-noirs (Schwarzfüße), hintertreiben noch heute jede Annäherung. An diesem Allerheiligen gedenken die Algerier allein des Kriegsbeginns. Die Pariser Presse interessiert sich nur für die Tätersuche nach der Enthauptung des französischen Reiseführers Hervé Gourdel im September in der Kabylei.

So verharrt Algerien mehr als ein halbes Jahrhundert später in der Misere, die aus dem Kriegstrauma erwachsen ist - verhärtet, verzweifelt, voller Bruchstellen und Gewalt. (Stefan Brändle, DER STANDARD, 31.10.2014)