Eine Bewegung durchs gegenwärtige Indien, ein Vater auf der Suche nach seinem verschwundenen Sohn: "Siddarth" von Richie Mehta.


Foto: Viennale

Der in Kanada lebende Regisseur Richie Mehta.


Foto: Viennale

Indisches Kino, das bedeutet im deutschsprachigen Raum derzeit fast ausschließlich Bollywood: farbenprächtige, optimistische Filme mit Gesang und Tanz. Andere Filme aus einer der größten Filmnationen der Welt schaffen es nur selten in die Kinos, im letzten Jahr gelang das immerhin der Verfilmung von Salman Rushdies Mitternachtskinder und The Lunchbox. Bei Ersterem führte Deepa Mehta Regie, die in Kanada lebt. Dort kommt auch Richie Mehta her. Aber verwandt seien sie beide nicht, beantwortet er meine Eingangsfrage, als er seinen Film beim Filmfest München vorstellt.

Sein Siddarth hat auch nichts mit Hermann Hesses (bereits mehrfach verfilmtem) Roman Siddartha zu tun. Er erzählt vielmehr von der Suche eines Vaters nach seinem verschwundenen Sohn, basierend auf einer wahren Geschichte, von der Mehta durch Zufall erfuhr.

"Ich fuhr in Indien mit einem Rikscha-Taxi, und der Fahrer fragte mich, ob ich wüsste, wo Dongri sei. Ich verneinte, und daraufhin erzählte er mir die Geschichte von seinem verschwundenen Sohn, der nach Dongri gegangen sei und von dem er seitdem nie wieder etwas gehört habe. Er sei vermutlich entführt worden. Das sei vor einem Jahr passiert, er hätte Erkundigungen angestellt, aber die führten zu nichts. Was könne er noch machen, er habe schließlich eine Familie zu versorgen. Ich bot ihm Hilfe an, und er gab mir die Nummer seines Nachbarn, er selber hatte gar kein Telefon. Zu Hause googelte ich Dongri, und nach zwei Sekunden wusste ich, wo dieser Ort liegt. Ich rief den Mann an, musste aber feststellen, dass die Nummer, die er mir gegeben hatte, falsch war. Ich sah ihn nie wieder, aber dieses Erlebnis blieb mir im Gedächtnis."

Weil die kleinen Reparaturarbeiten, die der Vater Mahendra auf den Straßen ausführt, kaum reichen, um die vierköpfige Familie zu ernähren, schickt er seine Sohn Siddarth in eine fremde Stadt, wo es in der Fabrik eines entfernten Verwandten seines Schwagers gute Verdienstmöglichkeiten geben soll. Doch als der Sohn einen Monat später anlässlich eines Feiertages nicht zur Familie zurückkehrt, beginnen die Eltern, sich Sorgen zu machen, und der Vater geht zur Polizei. Dort wird er jedoch gleich dafür gescholten, dass er seinen Sohn zur (offiziell verbotenen) Kinderarbeit statt in die Schule schickte und dass er nicht einmal über ein aktuelles Foto von ihm verfüge. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als auf eigene Faust zu ermitteln - keine einfache Aufgabe, wenn man familiäre Pflichten hat, die Suche Geld für öffentliche Transportmittel verschlingt und man mit einem Handy Probleme hat.

"An vielen Orten hat die Arbeiterklasse Zugang zur entwickelten Technologie, weiß aber nicht, wie diese zu benutzen ist. Die Kinder können das besser, so wie in unserer Generation: Ich wusste, wie man einen Videorecorder bedient, was meine Eltern nie gelernt haben", erläutert Richie Mehta.

Auch der Arbeitgeber erweist sich bei den Ermittlungen nicht als Hilfe: Er bezeichnet Siddarth als undankbar, er habe sich beschwert, sei bereits nach zwei Wochen fortgelaufen, Mahendra jedoch ist fest davon überzeugt, dass sein Sohn so etwas nicht tun würde.

Dongri ist schließlich der Ort, an dem Mahendra seinen Sohn suchen soll, weil sich dort angeblich viele verschwundene Kinder aufhalten: "Das ist eine normale Nachbarschaft in Mumbai, wir zeigen sie ja im Film. In den 90er-Jahren gab es da allerdings starke Gang-Aktivitäten, und davon ist noch einiges geblieben - was man im normalen Tagesablauf allerdings nicht unbedingt sieht."

Trotz aller Realistik in der Schilderung bedrückender Lebens- und Arbeitsverhältnisse mag der Zuschauer auf ein Happyend hoffen. Aber für Mehta war von vornherein klar, dass sein Film anders enden müsse. Da war er nicht zu Kompromissen bereit, ebenso wenig, was die Finanzierung anbelangt: "Um als kanadische Koproduktion durchgehen zu können, hätte ich einen kanadischen Darsteller in einer Hauptrolle, also entweder den Vater oder die Mutter, besetzen müssen. Ich hatte den Eindruck, dass das dem Film nicht guttun würde. So trieb ich privates Geld von Investoren auf und bekam dann staatliche Gelder und solche vom Arts Council für die Postproduktion."

In Indien wird Siddarth als Arthouse-Film eingestuft, das bedeutet, er läuft - wenn überhaupt - nur in kleinen Kinos. "Viele indische Arthouse-Filme sind in Indien aber gar nicht im Kino zu sehen, sondern ausschließlich auf ausländischen Festivals. Siddarth lief in Indien zwar auf einigen Festivals, hatte aber bisher noch keinen Kinostart. Der DVD-Markt besteht weitgehend aus Raubkopien, Geld bringen deshalb nicht die DVD-Veröffentlichungen, sondern der Verkauf ans Fernsehen."

Wer sehr genau schaut, wird übrigens vielleicht erkennen, dass Irfan Khan nicht nur Siddarth, sondern auch - in kurzen Auftritten - zwei weitere Jungen verkörpert. "Würde der Vater seinen Sohn wiedererkennen, wenn er ihn nach so langer Zeit wiedertrifft?" (Frank Arnold, DER STANDARD, 31.10.2014)