Adar ist eine kleine, zierliche und freundliche Frau. Die 32-Jährige ist eine der ranghöchsten Kommandantinnen bei den Volksverteidigungseinheiten (YPG) der kurdischen Gebiete im Norden Syriens. Adar ist nicht ihr Vorname, sondern ihr Kampfname. Sie kommt aus Kamishli, jetzt sitzt sie in einer ehemaligen Kaserne der syrischen Armee in Til Kocer an der Grenze zum Irak.

Til Kocer war nach dem Aufstand gegen den syrischen Machthaber Bashar al-Assad eine der Hochburgen der Terrormiliz IS. Vor ein paar Wochen konnten die Kurden die Stadt zurückerobern. Die Koran-Graffiti der IS an den Mauern der Stadt sind mit blauer Farbe übermalt - und machen die Spuren der IS in der teilweise zerstörten Stadt nur noch deutlicher. Knapp 20.000 Soldaten der YPG sind in dieser Region von Rojava - wie das Kurdengebiet in Syrien genannt wird - unterwegs, ein Drittel davon sind Frauen.

Übermalte Koran-Graffiti in der Stadt Til Kocer.
Foto: Wolf-Dieter Grabner

In Kobane habe man mittlerweile die Oberhand gewonnen, sagt Adar: "Wir werden die Stadt nicht aufgeben." Derzeit fänden dort die schwersten Kämpfe seit Wochen statt. Die Angriffe der IS auf Kobane fänden nur noch aus Ehrgefühl statt, glaubt Adar. Die Terrormiliz habe ihren Kampf um Kobane bereits verloren, möchte das aber nicht zugeben. Noch nicht. Niemand hatte mit diesem Widerstandswillen der Kurden gerechnet; die Türkei nicht und auch nicht die Islamisten, die sich selbst "Islamischer Staat" nennen.

Adar lobt die Kampfeskraft, das Heldentum und die Entschlossenheit der kurdischen Kämpfer in höchsten Tönen. Sie räumt aber auch ein, dass die amerikanischen Angriffe in den vergangenen 15 Tagen "gute Ergebnisse" erzielt hätten.

Die YPG-Kommandantin Adar in einer ehemaligen Kaserne der syrischen Armee in Til Kocer.
Foto: Wolf-Dieter Grabner

Auf die Ankunft der Peschmerga-Einheit aus dem irakischen Teil der Kurdengebiete - sie wurde für Mittwoch als Verstärkung erwartet - sind die YPG-Kämpfer zwar nicht sonderlich stolz, aber sie brauchen dringend die schweren Waffen, die mit den Peschmerga-Kämpfern kommen sollen.

Der Militärkonvoi hatte sich am Dienstagnachmittag aus Erbil im Irak in Bewegung gesetzt. Ein Teil der Peschmerga wurde mit dem Flugzeug nach Sanliurfa in der Türkei nahe von Kobane gebracht. Der andere Teil fuhr mit dem Material und den Waffen über türkisches Gebiet Richtung des Grenzübergangs bei Suruç.

Massaker bahnt sich an

Während fast die gesamte mediale Aufmerksamkeit auf Kobane gerichtet ist, droht im irakischen Teil Kurdistans weitgehend unbemerkt ein erneutes Massaker an der Volksgruppe der Jesiden. Von der Kaserne in Til Kocer sieht man die Berge des Sinjar-Gebirges. Dort halten sich noch etwa 1000 Familien, die aus ihren Dörfern vor der IS-Miliz geflohen waren und nicht durch den Korridor ins syrische Gebiet in Sicherheit gebracht werden konnten, versteckt.

Der Korridor ist mittlerweile wieder zu, die IS hat hier die Oberhand gewonnen. Kommandantin Adar, die selbst daran beteiligt war, diesen Korridor freizukämpfen, berichtet nun von zunehmenden IS-Angriffen auf die Jesiden, die von nur wenigen Bewaffneten verteidigt werden müssen.

Von den Angriffen weiß man auch im Camp Newroz, einem Flüchtlingslager bei Raweste in Syrien. Hier sind 7000 Jesiden untergebracht. Sie sprechen täglich am Handy mit ihren zurückgebliebenen Verwandten. Die Lage scheint dramatisch zu sein.

Im Flüchtlingslager Newroz bei Raweste in Syrien sind 7000 Jesiden untergebracht,
Foto: Wolf-Dieter Grabner

Zuerst will niemand reden. Doch dann bricht es aus den Männern heraus: Sie erzählen von ihrer dramatischen Flucht; von Massakern und Hinrichtungen; von Vergewaltigungen und Entführungen; von Selbstmorden verzweifelter Mütter; vom Warten auf Hilfe in den Bergen.

Auch Frauen gesellen sich jetzt dazu, erzählen. Während eine redet, schauen die anderen stumm zu Boden. Es sind erschütternde Geschichten. All das, was Menschen Schreckliches tun können, wurde diesen Menschen angetan. "Das ist doch keine Religion", sagt ein Mann, "ich verstehe das nicht: Kein Gott kann so etwas erlauben!" Jeder hier hat seine Geschichte, hat Verwandte, die tot oder verschwunden sind.

Die Situation im Irak und in Syrien.

Besondere Sorge bereitet den Menschen hier das Schicksal der entführten Mädchen und Frauen. Man hat von ihnen nichts mehr gehört. "Wahrscheinlich wurden sie längst verkauft", sagt einer der Männer. Ja, nach Afghanistan, befürchtet ein anderer.

Dass die aus ihren Dörfern geflüchteten Jesiden im Sinjar-Gebirge nur von wenigen YPG-Kämpfern und einer eigenen, recht bescheidenen Miliz gegen die extrem brutal vorgehenden IS-Truppen verteidigt werden und offenbar keine weitere Hilfe zu erwarten ist, das empört die Menschen hier im Lager.

Für Verwunderung sorgt, dass die irakisch-kurdischen Peschmerga nach Kobane fahren, um die syrischen Freunde zu unterstützen - gleichzeitig aber die Situation auf eigenem Territorium kaum im Griff haben.

Der Weg des Militärkonvois Richtung Kobane führte von Erbil kommend nur etwa 40 Kilometer an Mossul vorbei, wo sich die IS eingenistet hat und die Kurdenmetropole Erbil im Irak bedroht. (Michael Völker aus Erbil, DER STANDARD, 30.10.2014)