Die neue Europäische Kommission, die am 1. November ihre Arbeit aufnimmt, steht vor vielfältigen Herausforderungen. Diese gelten für alle Mitgliedsländer: sich verschlechternde Konjunktur und auch mittelfristig sehr mäßige Wachstums- und Beschäftigungsaussichten; demografischer Wandel und die damit verbundene Alterung der Gesellschaft; Klimawandel und Notwendigkeit einer Energiewende; zunehmende Verteilungsprobleme - steigende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen, begrenzte und abnehmende soziale Mobilität, anhaltende Defizite in der Gleichstellung der Geschlechter; Regulierungsdefizite auf den Finanzmärkten.

Auch für die Steuerpolitik bringt das beträchtlichen Handlungsbedarf. Viele steuerpolitische Maßnahmen sind nach wie vor auf der nationalen Ebene zu setzen. In einigen Bereichen sind allerdings koordinierende und harmonisierende Initiativen der EU-Kommission erforderlich, da unilaterale Maßnahmen in einem so verflochtenen Wirtschaftsraum wie der EU nicht mehr effektiv durchzusetzen sind.

Dabei geht es vielfach darum, bereits von der letzten Kommission verfolgte Projekte voranzutreiben. In seiner Erfolgsbilanz weist der scheidende Kommissionspräsident José Manuel Barroso darauf hin, dass - und das ist in der Tat ein großer Erfolg - bedeutende Fortschritte bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung von Privatpersonen erzielt werden konnten. Die Kommission hat aber auch einige große Baustellen hinterlassen. Sie müssen ganz oben auf der Agenda stehen, wenn die Abgabensysteme der EU-Länder wachstums- und beschäftigungsfreundlicher sowie verteilungspolitisch und ökologisch effektiver werden sollen.

Derzeit ist das Gegenteil zu beobachten: Das Gewicht von Mehrwertsteuern und Abgaben auf Arbeit steigt; Umweltsteuern verlieren an Bedeutung als Lenkungsinstrument; die effektive Besteuerung von Vermögen, Kapitalerträgen und Gewinnen multinationaler Unternehmen wird immer schwieriger.

Weiter forciert werden müssen Initiativen zur Bekämpfung der Verschiebung von Gewinnen in niedriger besteuernde Länder innerhalb und außerhalb der EU durch multinationale Unternehmen. Dazu gehört der Abbau von Steuerkonstruktionen einzelner Länder, die es international tätigen Unternehmen ermöglichen, ihre Gewinne weitestgehend der Besteuerung zu entziehen. Dies verschafft ihnen einen unge- rechtfertigten Wettbewerbsvor- teil gegenüber binnenorientierten Unternehmen, und sie leisten keinen angemessenen Beitrag zur Finanzierung der von ihnen genutzten öffentlichen Leistungen.

Dabei sollte die EU-Kommission auch noch einmal gründlich diskutieren, wie weitreichend die angestrebte Harmonisierung der Körperschaftsteuer sein soll. Die Barroso-Kommission hat nur mehr die Einführung EU-weit einheitlicher Regelungen für die Ermittlung der Bemessungsgrundlage verfolgt. Darüber hinaus sollte aber geprüft werden, ob die Verteilung der steuerlichen Bemessungsgrundlage multinationaler Unternehmen anhand einer wertschöpfungsbasierten Zerlegungsformel an die beteiligten Länder nicht doch ein wirkungsvolles Instrument gegen die Gewinnverschiebung sein kann. Und Mindeststeuersätze sollten auf die Agenda, um dem anhaltenden Unterbietungswettbewerb nach unten Grenzen zu setzen.

Nach wie vor gibt es auch keine Einigung für eine Finanztransaktionssteuer, die zur Stabilisierung des Finanzsektors beitragen kann. Sie ist außerdem vor allem im Vergleich zu den in vielen EU-Ländern hohen Abgaben auf die Arbeit sehr wachstums- und beschäftigungsverträglich. Könnten sich alle EU-Länder auf ihre Einführung verständigen, wäre die Finanztransaktionssteuer darüber hinaus eine gute EU-Steuer, die einen Gutteil des EU-Budgets finanzieren könnte: statt der bisher eingehobenen nationalen Beiträge, die das EU-Budget zunehmend streitanfälliger machen. Überhaupt sollten eigene EU-Steuern zur Finanzierung des Budgets ein Anliegen der neuen Kommission sein, insbesondere Steuern, die im nationalen Alleingang nur schwer durchgesetzt werden können, aber als Lenkungsinstrumente stärker genutzt werden sollten: wie eine CO2-Steuer oder die Besteuerung des Flugverkehrs.

Mindeststandards für eine ökologisch wirksamere Energiebesteuerung sind eine weitere Baustelle. Seit Jahren verzögert sich die Verabschiedung einer aktualisierten Energiesteuerrichtlinie, die Mindeststeuersätze und deren regelmäßige Anpassung an die Inflation sowie die Orientierung an Energiegehalt und Emissionen von Energieträgern vorsieht.

Paradoxe Steuersouveränität

Insgesamt sollte sich die EU-Kommission als Vorreiter in Steuerfragen sehen, deren Bewältigung auch im globalen Zusammenhang für eine ökonomisch, sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung zentral ist. Freilich enden die Handlungsspielräume der EU-Kommission dort, wo das Beharren der Mitgliedsländer auf nationaler Steuersouveränität dominiert. So paradox es vordergründig klingt: Die Mitgliedsländer müssen sich stärker bewusst machen, dass ihre steuerpolitischen Handlungsspielräume nur aufrechtzuerhalten sind, wenn ein gewisses Maß an formaler Steuersouveränität in Form von verstärkter Kooperation und Harmonisierung aufgegeben wird. (Margit Schratzenstaller, DER STANDARD, 30.10.2014)