Ein harsches Land, ein gefährliches Meer und Menschen, die viel zu tragen haben: "From What is Before" ist einer der Filme des Jahres.


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Lav Diaz (55) ist ein Filmemacher von den Philippinen, dessen Filme sich mit der wechselvollen Geschichte seines Landes befassen. Er hat zahlreiche Preise gewonnen, zuletzt für "Mula" den Goldenen Leoparden in Locarno.

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STANDARD: Ihre Filme sind berüchtigt für die Zeit, die sie in Anspruch nehmen. "Mula sa kung ano ang noon / From What is Before" ist mit unter sechs Stunden nicht der längste. Haben Sie bereits eine genaue Idee der Dauer, wenn Sie den Film beginnen?

Lav Diaz: Nein, es gibt dahingehend keinen Prozess, der dem Film vorausgeht. Ich schreibe von Tag zu Tag und warte einfach ab. Und wenn ich das Gefühl habe, dass der Film eine Richtung nimmt, dann folge ich ihr. Wenn das acht Stunden dauert, dann dauert es eben so lang. Ich werde mich keinem Druck eines Formats anpassen, nur weil dies dem Markt entspricht: Pfeif auf den Markt! In Norte, meinem letzten Film, dauerte die Geschichte fünf Stunden und 20 Minuten. In From What is Before braucht es fünf Stunden und 38 Minuten.

STANDARD: Ein Resultat der Dauer ist, dass es Inseln der Reflexion, Zeit für Diskussionen gibt. In "From What is Before" findet etwa ein Gespräch zwischen einem Priester und dem Militärführer über die Legitimität von Ferdinand Marcos statt. Wie entstehen solche Szenen?

Diaz: Das kommt wohl aus der Erfahrung von Romanen. Bei der Lektüre von Dostojewski und Tolstoi entdeckt man, wie viel Raum sie für solche Passagen lassen. Oder in der Philosophie, wo sich viele Diskurse ewig um dieselben ethischen Fragen drehen: gerade wenn es um Moral geht, um die Frage des Bösen. Ich versuche in meinen Filmen auch, diesen Raum für Reflexion und Kontemplation zu gewähren. Man sieht einen Vogel vorbeifliegen und kann über das Leben nachdenken. Die Welt ist ein Kontinuum, das nicht aufhört: Auch die Filme enden nie, der Diskurs geht weiter. Und hinter dem, was wir sehen, gibt es noch ganz andere Kräfte und Räume. Das Kino ist für mich auch ein einziges Kontinuum.

STANDARD: Neben der Literatur gibt es auch viele mythologische Einflüsse in Ihrem Werk, gerade in "From What is Before", mit dem Sie nach Mindanao zurückkehren. Wie verhält es sich mit diesem Mix westlicher und orientalischer Elemente?

Diaz: Ich wuchs in diesem südlichen Teil der Philippinen auf. In der dortigen malayischen Kultur gab es keine getaktete Zeitstruktur. Man konnte den ganzen Tag sitzenbleiben oder schlafen. Die Natur ist so reichhaltig. Dann kam der Kolonialismus, der alle Perspektiven, selbst unsere Namen geändert hat. Auf die Spanier folgte der Islam - ein Kataklysmus der Kultur, eine gewaltvolle Form, alle Dinge zu ändern. Aus Animisten wurden Katholiken, plötzlich ist da dieser weiße Gott, der in den Wolken schwebt, Gebote diktiert. Ich dachte, es ist an der Zeit, zu den Anfängen zurückzukehren, um diese Installierung von neuen Perspektiven zu untersuchen.

STANDARD: Im ersten Teil des Films sind animistische Traditionen noch sehr präsent - kann man das als eine Art Hommage verstehen?

Diaz: Ich will das zurückfordern, was wir verloren haben. Mindanao ist heute eine muslimische Region. In den frühen 1970er-Jahren, der Zeit, in der der Film spielt, gab es eine seltsame Gleichzeitigkeit: Als Marcos das Kriegsrecht ausrief und der Militarismus immer massiver wurde, entwickelte sich auch der Islam zum Fundamentalismus. Die malaysische Lebensweise wurde von zwei Seiten bedroht. Der Anfang erzählt von drei Kulten, die zerstört wurden: Schamanen gibt es nicht mehr, das Verbrennen der Toten nicht, und eine Trauerpraxis, bei der man singend Geschichten erzählt, auch nicht. Der Islam hat diese Praktiken verbannt, weil man diese Kulte für böse hielt.

STANDARD: Umgekehrt dauert es um die drei Stunden, bis ein Repräsentant von Marcos in dem Dorf auftaucht. Der Film fokussiert davor auf das entbehrungsreiche Leben der Dorfbewohner, ihre Vorahnungen. Wie kam es zu dieser Perspektive?

Diaz: Mir ging es darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Unheil schon spürbar wird: Die Hölle rückt immer näher. Vieles davon, was ich zeige, stimmt, auch die toten Rinder hat es gegeben. Ich habe unterschiedliche Ereignisse aus der Vergangenheit zusammengefügt. Sito, der Lehrer, Perdido, der militärische Repräsentant - sie basieren alle auf realen Figuren.

STANDARD: Auch die zwei Schwestern, von denen eine behindert ist und als Heilpraktikerin fungiert?

Diaz: Ja, und auch die richtigen Schwestern haben sich umgebracht. Sie haben mit ihren Leben eine Sackgasse erreicht. Ihre Tat ist aber auch eine Geste, um sich selbst zu befreien. Itang wusste, dass es für ihre Schwester keine Heilung gibt. Und wie kann sie weitermachen in einer derart einengenden Gesellschaft? Ich sehe das als eine Metapher für das ganze Land, das auch keinen Ausweg mehr hatte: Wenn man die Methode nicht mehr ändern kann, dann soll man es besser beenden. Das war mein Konzept: dass diese persönliche Geschichte einen größeren Nachhall erzeugt.

STANDARD: Eine wichtige Rolle spielt die Natur, der Wind in den Palmen, der Regen. Wo haben Sie gedreht?

Diaz: Ich habe zwei Jahre lang nach einem Ort wie diesem gesucht, der aussieht wie aus den späten 1960ern. Es sollte ein harscher Ort sein, angefangen bei den Wellen, dem Regen, der nicht aufhört. Glücklicherweise sagte mir einer der Schauspieler, als ich ihm davon erzählte: "Da, wo ich herkomme, ist es so." Der Ort befindet sich im Norden des Landes - gegenüber liegt Taiwan. Es sieht dort so aus, als hätte die Zeit alles konserviert. Und das Meer war so wild, dass es oft schwer war, eine Kameraposition zu finden.

STANDARD: Wie kann man sich die Arbeit mit den Schauspielern vorstellen und deren Beziehung zum Umfeld?

Diaz: Natürlich spreche ich mit den Darstellern darüber, dass die Charaktere realen Personen nachempfunden sind. Ich liefere Hintergrundinformationen, aber nur begrenzt, da ich mein Drehbuch jede Nacht weiterschreibe und es ihnen erst am nächsten Tag in die Hände gebe. Mit der Zeit haben sie ihr eigenes Konzept. Und sie haben die Freiheit, selbst erfinderisch zu sein. Außerdem zeige ich ihnen immer den Bildausschnitt, damit sie wissen, in welchem Radius sie sich bewegen können. Auf diese Weise verstehen sie das Universum des Films - normalerweise verwenden wir ja auch die erste Szene. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 30.10.2014)