Regisseur Árpád Schilling wird durchaus deutlich: In ihrem überlangen Leben hat Emilia Marty (Nadia Michael) die Männer hauptsächlich von ihrer gewalttätigen Seite kennenlernen müssen.

Foto: Wilfried Hösl

Es steht dem aktuellen Opernhaus des Jahres, der Bayerischen Staatsoper in München, gut zu Gesicht, die neue Spielzeit mit einer Oper von Leos Janácek zu eröffnen. Dabei bietet Die Sache Makropulos genügend Raum für die musikalische Prachtentfaltung des heuer ebenfalls an die Spitze des Rankings gelobten Orchesters des Hauses. Auch wenn diesmal nicht der russische Wunderknabe Kirill Petrenko am Pult steht, sondern sein tschechischer Kollege Tomás Hanus.

Nun sind die Werke Janáceks längst vom böhmisch-mährischen Spezialfall der Operngeschichte zum Allgemeingut geworden. Doch dürfte es der Klangfarbe und der Verschränkung mit dem gerade bei diesem Komponisten zwingenden tschechischen Gesang nicht schaden, wenn ein Landsmann des Komponisten mit Muttersprachgefühl am Pult steht. So gibt es denn aus dem Graben ein packendes Breitbandkino für die Ohren, obendrein in einer kritischen Neuausgabe.

Zur suggestiven, emotional dräuenden Orchesterverführung kommt ein exzellentes Solistenensemble, bei dem Nadja Michael als Emilia Marty mit ihrem intensiven Spiel und einer vokalen Glanzleistung die Hauptlast schultert.

Auch sonst wird auf münchentypisch hohem Niveau gesungen: Von Pavel Cernochs Albert Gregor über die Kristina von Tara Erraught und John Lundgrens Jaroslav Prus bis hin zum Veteranen Reiner Goldberg als schrulliger (aber kein bisschen peinlicher) Altliebhaber Hauk-Sendorf. Aber nicht nur die musikalische Seite dieser Produktion überzeugt. Regisseur Árpád Schilling und sein Ausstatter Márton Ágh lösen die Geschichte der Frau, die in ihren 337 Lebensjahren tatsächlich höchstens Ende dreißig werden konnte, aus dem allzu konkreten Ambiente der staubigen Anwaltskanzlei, der Garderobenrückseite des Theaters und der Hotelzimmerenge, in der sie spielt.

In München sind es eher kafkaesk metaphorische Räume: Die Drehbühne beherrscht zunächst eine vertikale Installation aus unzähligen Stühlen, die zwischen zwei Mauerblöcken für das Sitzfleisch der Bürokraten stehen mag. Die Unmassen an geschreddertem weißen Papier auf der gesamten Bühne lassen nicht nur an Anwalts-Output, sondern gar an Wolken denken. Wenn die Garderobe von Blumen übersät ist, assoziiert das die Bühne, auf der Emilia unter all ihren wechselnden Namen ihre Erfolge gefeiert hat. Und wenn Pfleger in grüner Krankenhauskluft Hauk-Sendorf abführen, lassen die gepolsterten Wände an das Innere von Gummizellen denken. So recht wollen sie der Marty die Enthüllung ihres Geheimnisses allesamt nicht abnehmen.

Überlanges Leben

Diese in der Konkretheit sparsame, in ihrer Stilisierung aber effektvolle Ästhetik, rückt die Sänger ganz von selbst in den Mittelpunkt - woraus vor allem Nadia Michael Kapital schlägt. Sie vermeidet das Rollenklischee der großen Diva, taucht in der Kanzlei in Jeans und Lederjacke auf, als wäre sie Madonna. Sie ist dann die zerbrechliche, attraktive Frau (Typ Sunnyi Melles), die in ihrem überlangen Leben die Männer hauptsächlich von ihrer gewalttätigen Seite kennengelernt hat. Und: die in ihrer Beinaheunsterblichkeit hoffnungslos vereinsamt ist.

Bei Schilling schnappt sich das Nachwuchstalent Kristin am Ende den Pelzmantel und das Jugendrezept von Kaiser Rudolfs Hofalchimisten, steht auf der Bühne, auf der Emilia gerade wie in einem Alptraum noch einmal rituell misshandelt wurde, während sich der Raum von oben schließt. Mit einer Decke aus Eisbergen: In denen steht dann Kristin gleich mitten in der eiskalten Einsamkeit. Auch die Frauen sind halt nicht per se klüger als der Rest der Menschheit. Das ist nur eine der Weisheiten, die man aus diesem gelungenen Münchner Spielzeitauftakt mit nach Hause mitnehmen könnte. (Joachim Lange aus München, DER STANDARD, 29.10.2014)