Zum Schluss seiner Studie über "Die Intrige - Theorie und Praxis der Hinterlist" (München 2006) stellte der schweizerische Literaturhistoriker Peter von Matt fest: "Ohne Verstellung gibt es keine Politik, und ohne Sensorium für das, was zielgerichtete Verstellung, also Intrige ist, kann niemand die Weltpolitik verstehen." Was sich dieser Tage auf der Gerüchtebörse um die russischen Absichten in der Ukraine und im Intrigantengefüge der EU abspielt, bestätigt die Hinweise der Klassiker der politischen Philosophie und Soziologie über den Akt der Verstellung und deren Zweck, über die Gerüchte und den Bumerangeffekt der Dementis.

Nehmen wir zum Beispiel den Fall des langjährigen polnischen Außenministers Radek Sikorski, der weltweit für Aufsehen sorgte, als er dem US-Onlinemagazin Politico sagte, Wladimir Putin habe im März 2008 dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk eine gemeinsame Teilung der Ukraine angeboten. Unter anderem sollte die westukrainische Stadt Lemberg (Lwiw), die bis zum Zweiten Weltkrieg zu Polen gehörte, wieder polnisch werden. Das Interview schlug wie eine Bombe ein.

Kurz nach seiner aufsehenerregenden Aussage erklärte der im September nach sieben Jahren als Außenminister abgelöste und zum Parlamentspräsidenten ernannte Sikorski das Interview zuerst für "nicht autorisiert" und "überinterpretiert", um nachher zuzugeben, dass er bei dem Treffen, auf das er sich berief, nicht dabei gewesen sei und sein Gedächtnis versagt habe. Der kürzlich als EU-Ratspräsident bestellte Tusk betonte, dass es ein solches Treffen mit Putin, bei dem der russische Präsident eine Teilung der Ukraine angeboten haben soll, nicht gegeben habe. Tusk und seine Nachfolgerin, Premierministerin Ewa Kopacz, lehnten die Rücktrittsforderungen der Opposition ab, zumal Sikorski sich für seinen "Fehler" entschuldigt habe.

Eine ungeheuer brisante Geschichte, die das Image des bis vor kurzem als charismatische Führungskraft der europäischen Diplomatie geltenden, ehrgeizigen Sikorski, nach dessen abgehörten und im Juni veröffentlichten derben Beschimpfungen der britischen und amerikanischen Regierungen wohl endgültig ramponiert hat. Dieser merkwürdige Fall selektiver Erinnerung wirft wegen des Verstärkungseffekts der Medien auch einen Schatten über die Position Tusks, der die EU in Verhandlungen mit Russland vertreten soll.

Überhaupt schickt die EU dieser Tage nach dem letzten Gipfel widersprüchliche Signale. Statt einer eloquenten, zielorientierten und entscheidungsfähigen Führung erwecken die Regierungschefs den Eindruck, sie seien unfähig und unwillig, wie versprochen gemeinsam die Staatsfinanzen zu konsolidieren und die verängstigte Bevölkerung in der EU zu beruhigen.

Camerons Wutrede wegen der von der EU-Kommission geforderten zusätzlichen Überweisung von zwei Milliarden Euro aus London nach Brüssel und die Erpressungstaktik des italienischen Premiers Matteo Renzi mit Drohungen zur Bloßstellung der EU-Bürokraten, weil diese seinen Budgetplan kritisierten, sind Beweise für ihr Inszenierungstalent statt der so dringend benötigten Eigenschaften Verantwortungsbereitschaft und Mut. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 28.10.2014)