Was ist bloß mit Paris los? Bislang war diese ureigentliche Stadt der Liebe nicht für Prüderie bekannt. Allein wie sie einen da auf der Straße anlächeln! Als Wiener ist man derlei bekanntlich gar nicht gewöhnt - die unverschämt lebensfrohe Art, mit der man in Paris gemustert wird, lässt einen aber fix rot werden als zentraleuropäischer Charme-Tölpel.

Davon ganz abgesehen sind die Pariser seit je dafür bekannt, alle Art von Schlüpfrigkeit mit dem noblen Mantel des Schweigens zu bedecken - erlaubt ist, was gefällt. Manchmal, wie die im Zuge der Affäre DSK bekannt gewordenen Libertinagen der Politklasse nahelegen, etwas zu sehr.

Und jetzt machen ebendiese Pariser plötzlich Aufruhr, weil ein auf der Place Vendôme aufgestelltes Werk des Künstlers Paul McCarthy angeblich die Stadt entehrt. Die aufblasbare Skulptur ("Tree") erinnert je nach Gemütslage an einen Tannenbaum oder die Nachbildung eines Sexspielzeugs. Et alors?

Nix da. Die Skulptur wurde, nachdem ein Aufschrei der Empörung durch die Stadt gegangen war, über Nacht niedergestochen, worauf sie in sich zusammensank. Als Wiener darf man sich plötzlich ganz weltstädtisch fühlen. Immerhin hatte die Künstlergruppe Gelitin ihren "Weihnachtsbaum" für das hochheilige Belvedere bereits 2010 in eine durchaus an ähnliches Spielzeug erinnernde Form gebracht. Was damals ganz entspannt und ohne moralinsaure Attacke abging. (corti, DER STANDARD, 27.10.2014)