Meine Damen und Herren, Sie sehen mich heute vor Ihnen stehen und erwarten so etwas wie eine Rede zur Einweihung dieses Denkmals, d. h. ich soll hier eigentlich stehen und eine Rede halten - d. h. der Künstler Olaf Nicolai wollte keine Rede, aber mir schien es dringend geboten, mich zu Wort melden, wie man sagt - keine Sorge, ich halte keine Rede. Ich werde nicht dazukommen. In Wirklichkeit stehe ich immer noch in der zehnten Reihe, denn das ist im Moment mein eigentlicher Platz, wie ich seit einiger Zeit zu wissen glaube. Oder warum finde ich mich perma- nent in solchen Veranstaltungen wieder? Gedenkveranstaltungen könnte man sie nennen, oder Erinnerungsriten, Jubilarien jenseits des Erster-Weltkrieg-Jubiläums, das mit großer Zweischneidigkeit durch dieses ganze Jahr fährt.

Manchmal bin ich aus geografisch-familiären Gründen dort wie bei der jährlich stattfindenden Gedenkfeier zum 20. Juli 1944, dem Jahrestag des Attentats auf Hitler, manchmal aus beruflichen wie bei dem 100. Geburtstag des Schriftstellers und Deserteurs Alfred Andersch und denke, das hat nicht viel mit mir zu tun.

Ich ärgere mich über die Betulichkeit der Reden, die beispielsweise bei der Gedenkveranstaltung zum 20. Juli die sozialdemokratische Partei im hessischen Hinterland organisiert. Ich ärgere mich über den falschen Heroismus, der einen erschlägt, über das Highlighten eines spezifischen Widerstandsaspekts, der höchst ambivalent ist und von der Linken immer eher pauschal abgelehnt wurde. Mit Tom Cruise als Stauffenberg vor Augen verlaufe ich mich in den historischen Wirren, lande manchmal sogar im Gebüsch, um der Hauptrede eines geladenen Betulichkeitsspezialisten auf jenem Gedenkhügel mit dem riesigen Kreuz zu entgehen, und treffe dort auf die Enkelin eines Mitverschwörers, die um ihre ganz konkreten Großeltern trauert.

Ich komme mir in meiner Kritik plötzlich vollkommen deplatziert vor und stolpere weiter, mitten hinein in eine hitzige Debatte im absolut unhitzigen universitären Rahmen. Germanisten hatten Militärhistoriker und Familienangehörige sowie Hagiografen zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Alfred Andersch geladen und mich dazu als Beispiel für die Gegenwart. Auch da. Zehnte Reihe. Auch da zischt es von hinten: "Der hat ja gar nicht wirklich desertiert." "Niemand weiß, ob er tatsächlich 1933 im KZ war." Und von vorne kommt "Die Lügendebatte ist doch nur ein Racheakt für Anderschs linksradikale Positionen in den 70ern"!

"Mir ist das eigentlich relativ egal", höre ich mich plötzlich etwas lauter als gewollt formulieren, "ob er wirklich desertiert ist, er hat doch jede Menge Mut bewiesen, als er mit seinem Bericht ,Kirschen der Freiheit' 1952 dem Deserteur ein erstes literarisches Denkmal setzte. Immerhin hat er dafür damals Morddrohungen einkassiert." Man sieht mich entsetzt an. Zu Recht, denke ich schon einen Moment später, doch dann lande ich schon hier und möchte am liebsten in meiner zehnten Reihe untertauchen, was erst einmal nicht zu gelingen scheint.

Keine Ahnung, welche Flüsterattacken dort schon auf mich warten. Klar ist, ich weiß nicht, wovon ich spreche, eine ziemlich unheimliche Sache für diesen Anlass. Ich weiß nur, dass die Entscheidung zu desertieren nicht alleine das eigene Leben aufs Spiel setzt, sondern noch Generationen später in emotionale Schieflagen bringen kann, dass sie konkret familiär und gesellschaftlich etwas bedeutet, und ich mich insofern heute nicht verlieren möchte in allzu abstrakten Verallgemeinerungen.

Das "Nein", das der Deserteur oder die Deserteurin für sich formuliert, ist eben keine sogenannte Investmententscheidung für oder gegen das eigene Leben, es geht auch nicht auf in einer abstrakten Vorstellung von moderner Subjektkonstitution oder in einer situationistischen Kunstaktion, es ist eine radikale Verweigerung der Rechtsnorm, die lange nach dem Krieg noch als beschämend galt, nein mehr, juristisch wie moralisch nach wie vor als Zerreißen des gesellschaftlich Gebotenen galt, ein Zerreißen, das einen ortlos machte und in vielen Fällen mit dem Tod bestraft wurde. Insofern muss ich zugeben, habe ich im Grunde wenig Ahnung davon, oder nur eine Restahnung, wie man heute gerne sagt.

Drei Prozent sind desertiert

Ich nehme an, ganz in der Gefolgschaft von Andersch und Sartre, dass es etwas mit einer Entscheidung zu tun hat. Mit einer ganz persönlichen, radikalen, letztlich sehr komplexen, auch wenn sie relativ einfach aussieht, manchmal auch radikal einfach getroffen wurde. Und doch: An dem Tag, an dem Alfred Andersch desertiert ist, seien drei Prozent des deutschen Heeres desertiert. Erstaunlich, dass es so lange gesellschaftlich geächtet blieb.

Sicher, es waren nicht immer im großen Maßstab veröffentlichte Entscheidungen wie bei den Verschwörern des 20. Juli 1944 oder bei Alfred Andersch. In der Mehrzahl waren es die aus der zwölften, zwanzigsten oder vierzigsten Reihe, die es nach wie vor gibt, darüber solle man sich nicht täuschen bei all der Postdemokratie, in der wir gelandet sind. Dort, wo man sich nur was zuflüstern kann, wo die Informationen nur spärlich ankommen, wo die Mehrzahl regiert. Wo derzeit alles so aussieht, als würde man noch eine Weile sitzen bleiben. Drei Prozent an einem Tag ist eine ganz schöne Menge, eine lebensrettende Menge, trotzdem kam Andersch sich vor wie ein Einzelner. Alleingelassen in seiner Entscheidung. Einer Entscheidung nicht unbedingt für das eigene Überleben, aber das eigene Leben, gegen das geltende Recht der Kriegssituation, gegen dessen Herrschaft, gegen das, auf was man eingeschworen wurde, und natürlich wurden auch wir heute, gerade hier in der zehnten Reihe, auf jede Menge eingeschworen. Und natürlich wissen wir, heute nimmt man einem die falsche Entscheidung mehr denn je übel.

"Eben, eben", unterbricht mich ein Mensch aus der vierten Reihe, "natürlich kennen wir solche Entscheidungen. Ich als Manager treffe sie im Grunde täglich, und manchmal werden sie als die falschen Entscheidungen empfunden. Deswegen nennt man mich ja den Entscheider." Er würde gerne aufstehen, doch als hätte er ein harsches "Sitzenbleiben!" gehört, bleibt er, wo er ist, und lässt es lieber.

Epoche des ewigen Friedens

Und dennoch: Der Deserteur hat derzeit so eine schlechte Konjunktur, dass es mich beinahe schon wieder wundert, dass dieses Denkmal heute eingeweiht werden soll. Es ist unzeitgemäß in Zeiten der permanenten Wirtschaftskriege und Unternehmensidentitäten, in Zeiten der Blauhelmeinsätze und der Missionen, des Fußballfiebers und des Durchhaltens bis zum Sieg und gleichzeitig anachronistisch in dieser Epoche des ewigen Friedens, die uns hierzulande zu umgeben scheint. Von uns aus gesehen, ist zu desertieren eine historische Praxis oder eine, die ganz woanders stattfindet, genauso wie gesellschaftliche Gewalt immer woanders stattfindet.

Vielleicht sollte man das "Nein" doch auswandern lassen in andere Bereiche, vielleicht ist es anderswo gefragt, überlege ich und sitze gleichzeitig immer noch auf meinen Stuhl neben anderen Stühlen, oder stehe auf meinem Platz neben anderen Plätzen, wie Sie wollen. Neben mir haben zwei Menschen längst begonnen, sich Geschichten zu erzählen, vom Tunnelbau der Hamas, von Gazastreifenpaniken, den Flüchtlingskolonnen, Syrien und der IS im Irak. Sie erzählen sich den Zustand in der Ostukraine neu, sie sind nicht zu stoppen, sie hören nicht auf zu reden und stören gewissermaßen den Anlass. Vor mir, ungefähr in Reihe sieben, stellt jemand Flugroutenüberlegungen an, will Fluggastrechte, die er nicht bekommen wird, und wenn er Pech hat, noch so manch andere Rechte nicht, weil ab jetzt immer anderes Recht gilt. Es könnten ja wie in Ungarn die Nebel sich verziehen, und dann steht man alleine da, einer unter vielen, und es gibt nicht viele, die sich in einem Unrechtsregime, wie es dann nachträglich gerne heißt, einem Unrechtsregime, das im rechtlichen Rahmen sich konstituiert hat, nicht kompromittieren mussten.

"Sitzen nicht im selben Boot"

Desertieren kann heißen, sich blitzartig für die richtige Sache zu entscheiden. Es kann auch Verrat heißen, auch so eine unzeitgemäße Kategorie. Man weiß solche Dinge immer erst im Nachhinein. "Nachträglich", so formuliere ich auch schon, "auf der richtigen Seite zu sein ist eine der wenigen moralischen Sportarten, die wir heute betreiben" - "doch was heißt ,wir'", protestiert die Reihe sechzehn, "wie komme ich dazu, dieses ,Wir' zu konstruieren?" - "Wir sitzen nicht im selben Boot", meint Reihe 24, "und doch", wirft Reihe zwei zurück, "befinden wir uns in einem gesellschaftlichen Zusammenhang, der auf Verfassungen, Werten auf Basis der Menschenrechte und Vorstellungen eines demokratischen Systems beruht" - "und", so füge ich aus meiner zehnten Reihe hinzu, "in dem der moralische Druck mehr und mehr als Kampfvehikel fungiert".

Mir schwant, ich als typischer Vertreter meiner zehnten Reihe möchte im Prinzip nicht Partei ergreifen. Ich möchte, füge ich etwas erschrocken über mich selbst hinzu, politisch eher farblos sein - nicht, dass ich das für richtig halte - es ist eher ein typisches Mittelschichtsbegehren: Lasst mich meine Geschäfte machen und ansonsten in Ruhe! Ja, fügt mein Sitznachbar hinzu, und wenn dich etwas stört, dann gründest du eine Bürgerinitiative gegen Fluglärm. "Seid mal still!" , unterbricht uns eine Stimme von links, "ist es nicht wunderbar, dass man dem einfachen Verweigern, dem Abhauen ein Denkmal setzt?" Und ja, wir staunen kurz. Daraus kann was entstehen! (Kathrin Röggla, DER STANDARD, 25.10.2014)