Wolfgang Schirmer: Freiheit kann man nicht in der Früh anknipsen

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Schwer gepanzert und sehr geländegängig: Ein MAN SX-Lkw, mit dem unter anderem Brückenteile verlegt oder Patriot-Raketenbatterien transportiert werden können.

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Herr Schirmer ist ein genauer Mann. Jedes Wort wird abgewogen und angemessen. Es soll nichts falsch, verzerrt oder verdreht ankommen. Denn er ist schließlich gelernter Vermessungsingenieur und außerdem in seinem Beruf mitunter mit Missverständnissen konfrontiert: Wolfgang Schirmer ist Geschäftsführer der Rheinmetall MAN Military Vehicles Gmbh, der größten Rüstungsschmiede Österreichs.

"Mahlzeit!", wünschen seine Arbeiter. "Mahlzeit! Mahlzeit!", erwidert der akkurate Chef (und joviale Oberpfälzer), während er im Zickzack durch die Werkshallen der RMMV in Wien-Liesing wieselt, um ansehnliche Objekte zum Herzeigen zu finden. Dann endlich ist zwischen all den Zivil-Lkws ein Trumm von einem Militärtruck zu sehen: 8x8-Antrieb, gepanzertes Führerhaus, minengeschützt und extrem geländegängig. Gebaut wird er für die dänischen Streitkräfte.

Neben 1500 Speziallastwagen für Ölfelder, Feuerwehren oder den Straßendienst verlassen auch 500 militärische Lkws pro Jahr die Liesinger Fabrik. Kostenpunkt pro Stück: zwischen 90.000 und 500.000 Euro. 2013 wurde eine Lieferung für die britische Armee über 7000 Trucks abgeschlossen. Derzeit läuft die Vorbereitung auf den nächsten Großauftrag aus Australien, das 2500 militärische Nutzfahrzeuge im Wert von 1,1 Milliarden Euro bestellt hat. Auch Norwegen und Schweden haben bei der RMMV zuletzt meh al 300 Lkws geordert, bis zu 2000 könnten es laut Rahmenvertrag werden. Daneben wird für Neuseeland, Kuwait, die Arabischen Emirate, für Oman, Singapur und gelegentlich für Deutschland und Österreich gefertigt.

Durch die Bestellungen aus den militärischen Heimmärkten könnte das Werk nicht überleben, sagt Herr Schirmer: "Wenn wir am 2. Jänner um sechs Uhr früh mit der Produktion beginnen, wären wir ein paar Tage später schon fertig." Vom australischen Auftrag blieben 600 Millionen Euro an Wertschöpfung in Österreich. Die nach dem Auslaufen der britischen Lkws von 730 auf 530 Mitarbeiter abgebaute Belegschaft werde nun sukzessive wieder aufgestockt. Das Werk wird bis mindestens 2020 gut ausgelastet sein.

Strukturwandel

Die RMMV steht beispielhaft für den Strukturwandel in der Branche. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie erbte die junge Republik Teile der k. u. k. Rüstungskonglomerate. Im Zweiten Weltkrieg wurden die meisten Unternehmen zerstört. Nach dem Staatsvetrag rüstete das neutrale Österreich auf: Der Steyr-Konzern entwickelte unter anderem die Haflinger- und Pinzgauer-Fahrzeuge, den Jagdpanzer Kürassier und den Radpanzer Pandur, auch das MG 74 und das Sturmgewehr 77. Mit der Aufrüstung aber kamen auch Skandale: 1977 musste Verteidigungsminister Karl Lütgendorf wegen des Verdachts illegaler Waffengeschäfte (400.000 Schuss Gewehrmunition für Syrien) zurücktreten. Die Affäre um in den Irak und den Iran gelieferten Noricum-Haubitzen erschütterte Ende der 1980er-Jahre die Republik. Seither laufen die Geschäfte mit Kriegsgerät eher schleppend, zuletzt wurden die vom US-Konzern General Dynamics übernommene Steyr-Panzerproduktion in Wien-Simmering dichtgemacht und weit über 100 Mitarbeiter beim AMS angemeldet. Nur noch eigentümergeführte Mittelständler und Nischenhersteller - wie die RMVV - können ohne viel Heimnachfrage im weltweiten Wettbewerb mithalten.

Wer im Bundesheer nach der hiesigen Rüstungsindustrie fragt, bekommt einen säuerlichen Running Gag zu hören: "Gibt's so was?" Reinhard Marak, der Geschäftsführer der Arge Sicherheit und Wirtschaft in der Wirtschaftskammer, formuliert differenzierter: "Bis auf vielleicht Glock und Steyr-Mannlicher sind wir in Österreich weit weg von klassischer Wehrwirtschaft. Weil wir kein Billiglohnland sind, reüssieren wir in Nischen und bei Spezialaufträgen. Hochtechnologie ist gefragt."

Besonders erfolgreich seien österreichische Unternehmen in den Bereichen Mobilität (RMMV) oder Kommunikation (der Wiener Technologiekonzern Frequentis oder der Überwachungsspezialist Scotty). Ein Hemmschuh für die Industrie dagegen sei neben der geringen heimischen Nachfrage das strenge staatliche Exportregime (siehe Wissen). Marak: "In diesem Marktsegment ist die öffentliche Hand typischerweise der einzige Kunde. Wenn man sich entscheidet, dass man eine solche Industrie erhalten will, dann muss der Staat Unterstützung geben: durch Nachfrage, Unterstützung bei Exporten und Investitionen in Forschung und Entwicklung."

Säuerlicher Running Gag

Ähnlich argumentiert Gerd Unterganschnigg, einer der beiden Eigentümer des Schusswaffenherstellers Steyr-Mannlicher: "Wir haben in Österreich ein enorm hohes Qualitätsniveau in der Branche, auch im Vergleich etwa mit Deutschland. Unser Problem ist, dass wir Betriebsleistungen nicht stabilisieren können, weil wir ständig an die Grenzen der Exportbestimmungen stoßen." Die entsprechenden Gesetze und deren Handhabung seien extrem restriktiv. Was fehle, sei eine außen- und wirtschaftspolitische Strategie, die österreichischen Firmen ähnliche Bedingungen ermögliche wie etwa den tschechischen oder italienischen Konkurrenten.

"Uns geht eine ernsthafte Debatte über Sicherheitspolitik in Österreich ab", beklagt sich Unterganschnigg, dessen 150 Mitarbeitern in Österreich noch immer zwischen 5000 und 10.000 STG77 pro Jahr (und fast ausschließlich für den Export) produzieren. Bis dahin müsse man nolens volens auch über eine Verlegung der Fertigung ins Auland nachdenken.

Lkw-Bauer Schirmer sagt es anders: "Die Freiheit kann man nicht jeden Tag in der Früh einfach anknipsen. Für die Demokratie muss man auch etwas tun." Eine Debattenaufrüstung könne Österreich gewiss auch nicht schaden. (pra, DER STANDARD, 25.10.2014)