Kunst macht viel Arbeit: eine Restauratorin in der Londoner National Gallery, der Frederick Wiseman im gleichnamigen Dokumentarfilm über die Schulter sieht.

Foto: Viennale

Ungläubig legt der heilige Thomas seine Finger in die Wunde unter der Brust des wiederauferstandenen Jesus; vorsichtig schneidet ein Diener das Haar des erschöpft im Schoß von Delilah schlafenden Kraftprotz' Samson ab; bluthungrig schlägt ein Drache seine Zähne ins Gesicht eines Gefährten von Kadmos, dem Gründer von Theben.

Alles drei sind Szenen aus Gemälden, die in der Londoner National Gallery hängen. Frederick Wiseman beginnt seinen schlicht National Gallery betitelten dreistündigen Dokumentarfilm über das Museum von Weltrang mit einem Bilderreigen aus besonders dramatischen oder ausdrucksstarken Ausschnitten aus den Gemälden der Sammlung. Erst dann zeigt er den ersten lebenden Menschen: Ein Putzmann bohnert den Boden einer der Ausstellungsräume, bis sich die Bilder auf dem Holzboden spiegeln.

Wiseman gilt als der große alte Mann des filmischen Institutionenporträts. Der mit 84 Jahren immer noch beneidenswert aktive Regisseur hat Filme gemacht über Krankenhäuser, Schulen und Gerichte, über ein Boxstudio, über öffentlichen Wohnungsbau und eine Pferderennbahn. Und in den letzten Jahren widmet er sich immer wieder den hohen und nicht ganz so hohen Künsten: dem Ballett der Pariser Oper in La danse (2009) etwa oder dem Varieté-Theater in Crazy Horse (2011).

Mit diesen beiden Filmen gemein hat National Gallery, dass Wiseman weniger hinter die Kulissen schaut, als die Kunst selbst in den Mittelpunkt stellt. Natürlich zeigt auch National Gallery Diskussionen des Museumsleiters mit der Marketingchefin, die Restauratoren bei der Arbeit oder eben den Putzmann beim Bohnern, um nur einige Beispiele zu nennen, aber wie in der Anfangssequenz bildet die direkte Konfrontation mit der Kunst den Schwerpunkt.

Das zeigt sich besonders im Vergleich mit Das große Museum, dem Dokumentarfilm von Johannes Holzhausen über das Kunsthistorische Museum Wien. Auch wenn beide Filme einige fast identische Szenen haben - der scheidende Leiter der National Gallery, Nicholas Penny, kommt sogar in beiden Filmen vor -, so erfährt man in National Gallery letztlich weniger über das Funktionieren der Institution Museum als im halb so langen österreichischen Film - allerdings wesentlich mehr über Kunstgeschichte. Insofern ergänzen die beiden Filme sich trotz ihrer ähnlichen Sujets.

Immer wieder zeigt National Gallery die Aktivitäten der Abteilung für Bildung und Vermittlung des Museums, besonders natürlich die Führungen des hervorragend geschulten Personals. Exzellent verbinden die Kunsthistoriker in ihren Erklärungen die jahrhundertealten Gemälde mit der Lebenswirklichkeit der Besucher.

Damit straft Wiseman sanft die Leiterin der Marketingabteilung Lügen, die zu Beginn gegenüber Penny behauptet, das Museum würde nicht genug tun, um auf seine Besucher zuzugehen. Zum Zweiten umgeht Wiseman damit aber auch geschickt die strengen Gesetze der von ihm mitgeprägten Direct-Cinema-Schule, in der direkte Interviews eigentlich verpönt sind: Die Ausschnitte aus Führungen bieten einen im besten Sinne didaktischen Zugang zur Kunst, der sonst nur mit Interviews oder einem Voice-over-Kommentar zu haben wäre. (Sven von Reden, DER STANDARD, 25.10.2014)