Der Flur in der Jugendstrafanstalt: Thomas Heises "Städtebewohner" ist ein ungewöhnliches Institutionenporträt.

Foto: Viennale

Der erste Film, den Thomas Heise 1980 gedreht hat, damals noch in der DDR, hieß Wozu denn über diese Leute einen Film. Er handelt von zwei kleinkriminellen Brüdern in Prenzlauer Berg. Der Titel zitiert den Ausspruch eines Hochschulfunktionärs, der nicht so recht verstehen wollte, warum man diesen beiden Strawanzern seine Aufmerksamkeit schenkt.

Heise blieb seinem Interesse für solche ungeraden Biografien und die jeweiligen Lebensumstände in all den Jahren treu. Städtebewohner, seinen jüngsten Film, hat er in Mexiko-Stadt zum Großteil in einer Jugendhaftanstalt gedreht. Vorangestellt ist dem Film eine Ouvertüre, in der Aufnahmen aus einer ländlicher wirkenden Gegend allmählich zum Freeway-Dschungel der Metropole hingeleiten. Bertolt Brechts Gedicht An M. wird dazu aus dem Off gelesen, in dem von Abwesenheiten die Rede ist, von langem Warten und von Türen, durch die Fremde eintreten.

Durch wie viele Türen er durch musste, fragt Heise später einmal Samuel, einen der Gefängnisinsassen; der überlegt kurz und antwortet "acht". Städtebewohner ist Ortserkundung und Verortung der inhaftierten jungen Männer zugleich. Wobei es lange dauert, bis in diesem Dokumentarfilm überhaupt Interviews stattfinden. Heise hat kein Interesse an Befindlichkeiten, zumindest nicht an solchen, die sich über Worte Kraft verleihen. Von der Sehnsucht nach Freiheit erzählen ohnehin Bilder wie jenes beredt, in dem sich ein Insasse wie eine Spinne akrobatisch an einem höher gelegenen Fenster festhält.

Heise hat den Film in Schwarz-Weiß gedreht (Kamera: Robert Nickolaus), die HD-Bilder lassen die oft in Dunkelheit gefilmten Bilder in vielschichtigen Grauabstufungen aufleuchten. Mit Musik unterlegte Fahrten durch den Garten ästhetisieren den Schauplatz geradezu. Es ist, als wollte Heise die Ambivalenz dieses Einschließungsortes unterstreichen: Bietet er auch Schutz vor dem Leben da draußen?

"Viel Glück", wünschen die Wärter jedenfalls zu Beginn jenen, die aus der Haft entlassen werden. Samuel erzählt im Gespräch, dass er fälschlicherweise für einen Mord belangt wurde. Die Umstände der Tat bleiben allerdings ziemlich unklar. Wo Werner Herzog in seiner Serie On Death Row die Einzelfälle bis ins Detail auslotet, stellt Heise diese nur in Fragmenten vor. Wenn ein Insasse ungerührt davon berichtet, wie er einem Mann zuerst in die Brust, dann in den Kopf geschossen hat, steht diese Tat für viele ähnliche.

Heise erhebt sich über keinen seiner Protagonisten. Er hält Zustände fest, Gesten, Momente. Das Gefängnis erscheint als Ort, an dem man Zeit für innere Einkehr gewinnt, aber Lebenszeit verliert. Die Zukunft: ein Vorhaben. Samuel bekommt Besuch von seiner Freundin, das birgt ein Versprechen. Ein anderer sagt, er sei als Krieger ins Gefängnis gekommen, und wenn er hinauskomme, dann sei er nichts mehr. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 23.10.2014)