Detailreiche Beobachtung eines Gerichtsprozesses: "Court" wurde auf dem Festival von Venedig mehrmals ausgezeichnet.

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Ein älterer Herr namens Narayan Kamble (Vira Sathidar) tritt auf kleinen Bühnen im indischen Mumbai auf und gibt Lieder mit kulturkritischen Texten zum Besten. Weil eines dieser Lieder einen Kanalarbeiter zum Selbstmord angestachelt haben soll, wird er verhaftet. Nach der Anhörung vor dem Haftrichter wird der Fall an ein Gericht verwiesen, das in etwa einem österreichischen Bezirksgericht entsprechen dürfte.

In seinem bemerkenswerten Debütfilm Court verfolgt der Regisseur Chaitanya Tamhane die Verhandlungen und setzt Ausschnitte aus dem Leben der vier zentralen Figuren in Szene: des Angeklagten, der Staatsanwältin, des Verteidigers und des Richters. Man sieht, wie Zeugen befragt werden oder wie der Anwalt Nachforschungen in der ärmlichen Nachbarschaft anstellt, in der der Kanalarbeiter lebte; der Richter diktiert der Schreiberin, was sie protokollieren soll; ein Polizist tritt in den Zeugenstand und äußert ohne einen Anflug von Scham Halbwahrheiten, die sofort als solche zu erkennen sind; als die lange Zeit verschwundene Witwe des Kanalarbeiters - sie war in ihr Dorf zurückgereist - endlich vor den Richter tritt, ist sie so eingeschüchtert, dass sie kaum ein Wort hervorbringt. Mehrmals wird der Fall vertagt, der Angeklagte verbringt die meiste Zeit in Haft, was man nicht sieht, weil es Chaitanya Tamhane ins Off des Films verschiebt.

Die Willkür ist allgegenwärtig, aber sie wird nicht so inszeniert, dass man mit Entrüstung und kalter Wut auf sie reagieren müsste. Tamhane, der erst 27 Jahre alt ist, registriert und beobachtet, statt zur Empörung anzustacheln, und die Kamerafrau Mrinal Desai unterstützt ihn dabei, indem sie oft die Totale wählt. Ihr ruhiger, fast dokumentarischer Blick hält die Akteure auf Distanz, erfasst dafür aber große Teile des Geschehens im Gerichtssaal.

Stoffe und Positionen

Wenn etwa auf den Sitzreihen beim Haftrichter Gedränge herrscht, wird deutlich, über wie viele Fälle an einem Tag entschieden wird. En passant erfährt man dabei einiges über die stoffliche Beschaffenheit des Justizsystems; Court schärft die Wahrnehmung dafür, wie die Akteure mit Kleidung ihre Position unterstreichen, oder dafür, mit welchen Möbelstücken und Raumeinteilungen sich der Raum der Justiz hervorbringt. Auch die Aufnahmen von Wohnungen und die wenigen Außenszenen machen viele Details sichtbar. Wie viel Platz ist in einer Küche? Wie viel Sonnenlicht dringt in die Gassen eines Viertels?

Subtil erzählt Tamhane von den ökonomischen Unterschieden, die Mumbai durchziehen, und er modelliert das bisweilen nicht vermittelbare Nebeneinander der Sprachen Hindi, Marathi, Gujarati und Englisch. Man ahnt, dass deren Verwendung jeweils etwas über Schicht und Herkunft verrät, ähnlich wie die Frage, ob man vegetarisch essen geht oder im Restaurant ein Fleischgericht bestellt. (Cristina Nord, DER STANDARD, 23.10.2014)