Heimische Autorinnen und Autoren haben sich aus der Österreich-Serie des Fotografen Anton Kiefer ein Foto und damit einen Ort ausgesucht, zu dem sie einen besonderen Bezug haben. Im Jung-und-Jung-Verlag sind
nun diese zeitgenössischen Erkundungen zu Österreich erschienen. Eine Vorausschau

Elfriede Jelinek

Mürzzuschlag, Steiermark

Foto: Anton Kiefer

Ich bin in Mürzzuschlag geboren, aus einer Wiener Familie, und ich selbst habe mein Leben lang in Wien gelebt. Mein Großvater, den ich nicht mehr gekannt habe, hat im Mürztal, zwischen Neuberg und Mürzsteg, ein Bauernhaus gekauft, das dann als Ferienhaus für die Familie gedient hat. Ich war immer in den Ferien dort. In Mürzzuschlag geboren bin ich zufällig. Eigentlich war Wien dafür vorgesehen, aber meine Mutter hat es nicht rechtzeitig dorthin zurück geschafft, sie wurde von meiner Ankunft überrascht. Die Obersteiermark war das Fremde und gleichzeitig Eigene für mich, meine stärkste Erfahrung der Natur. Aber ich suche mir ein Foto fast ohne Natur drauf aus. Es spricht zu mir, weil ich es kenne und gleichzeitig nicht. Ich kenne solche Stiegenaufgänge aus älteren Häusern, die plattenbelegten Stiegen haben etwas Modernes (wahrscheinlich sind die Platten erst später auf die Stufen draufgelegt worden), das Geländer scheint in seiner Wuchtigkeit auf ein größeres Wohnhaus hinzudeuten, diese Art Treppenstufen wieder kenne ich aus mit sich selbst prunkenden Einfamilienhäusern in Vorstädten, die sich nicht schämen, daß das ganze Blut ihrer Besitzer in sie hineingeflossen und nicht mehr herausgekommen ist. Sie zeigen sich wie barocke Gemächer, was ihnen nicht zusteht. Solche Häuser, die Häuser aus Zeiten, da Ziegel noch rationiert wurden, weil der Wiederaufbau der Stadt noch in Gange war (auch ich wohne in Wien in einem solchen), meinen sich selbst, denn ihre Erbauer haben zwar sich gemeint, ein schöneres Leben, bessere Wohnverhältnisse, frische Luft, einen kleinen Garten, das alles wollten sie sich schaffen, als sie die Häuser unter großen Opfern erbauten, aber sie haben sich damit gleichzeitig ausgelöscht. Das Haus ist noch da, die Bewohner sind das Haus, und jetzt sind sie tot. So viele beim Bauen gestorben.

Hier betritt Schnee, ein reines Naturprodukt (aber rein ist es schon nicht mehr, wenn es auf die Erde trifft), die Treppe, oben liegt er noch, unten, von wo er hinaufgeweht worden sein mag, ist er schon geschmolzen. Oder eben fortgeweht worden. Er ist noch nicht weggeschaufelt, das hat noch keiner getan. Das Land, die Wälder, Flüsse und Bäche, sogar die eigene Quelle (ja, wir haben selber eine, sie gehört zum Haus, sie gehört nur uns) tun, was sie wollen. Sie zeigen sich dem, der sie sehen will, obwohl sie nichts davon haben. Sie sind. Sie sind nicht geschaffen worden oder nur teilweise, da die Quelle ja einmal gefaßt worden ist. Und einmal im Jahr wird das Brunnenhaus gereinigt. Die Natur, die sich selbst ja nicht fassen kann, muß auch gefaßt werden, will man sie benutzen. Und andrerseits wollen die Skifahrer natürlich wieder das Ungebändigte, das Natur ist, dem sie die Natur aber austreiben. Frei herumfahren, überall. Manchmal springen sie mit ihren Skiern über unser Hausdach. Die grundsätzliche Ursprünglichkeit des Schnees, der die Treppe hinaufsteigt, des Ungebärdigen, das über das armselige Gemachte steigt, nicht um hinaufzukommen, wo es nicht hingehört, sondern aus keinem Grund als daß der Wind es dorthin vertragen hat; das Vorhandene, das sich nicht selbst dorthin gebracht hat, sondern mühelos hingeflogen ist, danke, Wind, danke, Wetter, danke, Kälte, sonst wäre es ja schon überall geschmolzen (oder vielleicht steht es schon im Begriff, das zu tun?, mir gehen die Begriffe dafür aus, bevor ich sie noch habe), das, worauf wir keinen Einfluß nehmen können (wir stellen uns ja nicht hin und fangen den hinauftreibenden Schnee auf und schmeißen ihn wieder runter, bevor er sich in Ruhe einmal hinlegen kann), das, was sich auf das Fundament der Stufen gelegt hat, dieses flüchtige Vorhandene – denn schmelzen oder entfernt werden wird er auf jeden Fall, dieser Schnee, wenn er nicht von selber geht, muß man ihm mit der Schaufel oder dem Besen Beine machen, aber jetzt ist er halt erst mal da, der Schnee –, das zeigt mir auf seltsame Weise (oder warum schau ich das Foto dauernd an, obwohl nichts Besonderes drauf zu sehen ist?) eine Wortlosigkeit, die Wortlosigkeit dessen, der von Worten ja lebt, wie ich, aber eine Wortlosigkeit (die losen Worte ändern ja nichts), die im Begriff ist, sich zu sammeln, um endlich auszubrechen, wenn man das so sagen kann? Der stumme Schnee und das stumme Ich, das aber unaufhörlich schreibt. Dauernd will ich etwas sagen, das aber kein Sagen ist, sondern ein Aussagen, in meinem Schreiben interpretiere ich ja ständig, eine furchtbare Unsitte, die mir oft vorgeworfen wird. Ich hätte auch die Möglichkeit zu sprechen, wann immer ich will, aber nein, ich schreibe, ich zeige auf etwas, und dann verlautbare ich es, weil mir die Laute dafür irgendwie nicht ausreichen. Und dann sehe ich: Das Wilde ist es nicht gewesen, das ich da eingefangen habe, obwohl ich es doch so wollte! Ich glaube, daß die Entdeckung, daß auf dieser Treppe oben (und unten kaum) Schnee liegt, mit dem Entdecken, daß es Schnee gibt und er überall, aber eben auch genau hier, auf einer Treppe, der man auf dem Foto nicht ansieht, welchen Zugang sie zum Draußen hat, sie muß natürlich einen haben, wie käme denn der Schnee sonst rein und würde Arbeit machen, es sei denn, man ließe ihn einfach da liegen?, daß also diese beiden Entdeckungen in eins zusammenfallen. Aber Vorsicht, gleich ist er weg, der Schnee! Schneller nachdenken, schneller schreiben! Auf dieser sicher nicht sehr sauberen Treppe fällt für mich ein Entdecken der Welt, der Natur, aber auch meines Ichs ganz genauso in eins zusammen. Ich habe keine Worte dafür, also schreibe ich sie. Ich mache sie, während der Wind den Schnee einfach nur dorthin geblasen hat, eigentlich: geworfen. Weil die Natur das ist, was nicht redet, obwohl sie ja angeblich oft "zu uns spricht", übernehme ich die Aufgabe, etwas zu erkennen, das mir da in den Blick gerückt worden ist, es zu erkennen, indem ich es nicht verstehe, dafür aber mich selbst, die ich einfacher bin. Nein, das auch nicht. Ich kann es nicht sagen, aber ich könnte es vielleicht schreiben, wenn auch nicht hier. Hier befindet sich die Schnittstelle, die mein Leben zwischen den steirischen Naturerfahrungen, von denen bisher ein großer Teil meines Schreibens lebt, und der Stadt, in der ich wohne, mein Wiener Einfamilienhaus aus den sechziger Jahren, ja, genau hier befindet sich die Schnittstelle, in der das eine ins andre übergeht, der Schnee kann nur einen kleinen Teil davon zudecken, und bald ist er wieder weg, aber er sagt mir: Schnittstelle können Sie das nicht nennen, den Ort, an dem zwei Welten ineinander übergehen und sich in eine dritte, Ihre Sprache, hineinzwängen wollen, aber Sie lassen sie ja nicht, Sie können es nicht, Sie nähern sich an, vielleicht, aber wo eins ins andre übergeht, weiß man nicht, wo das eine anfängt und das andre aufhört, das weiß niemand, und deswegen können auch Sie es nicht sagen. Nein: Deswegen können Sie es auch nicht sagen. Und wenn Sie glauben, Sie können es schreiben, dann sind Sie im Irrtum. Es geht gar nichts. Es geht von selber wieder weg. Wie dieser Schnee auf der Treppe.


Karl-Markus Gauß

Ybbs, Niederösterreich

Wie lange es dauert, bis man nach Ybbs kommt? Mehr als ein halbes Leben. Natürlich hatte mich der rätselhafte Unlaut dieses Namens schon als Schüler neugierig gemacht. Quälend langsam verstrichen im Gymnasium die Stunden in Physik oder Biologie, und Vincy, mein Nachbar, und ich markierten immer neue Orte, die wir auf dem unter der Bank aufgeklappten Schulatlas entdeckten. So reisten wir ins australische Kohlerevier von Kalgoorlie und Coolgardie und träumten davon, bald schon, spätestens in den Ferien zwischen sechster und siebter Klasse, in Uppsala, Saloniki oder Salamanca das Leben wieder zu finden, das aus unserer Schule entflohen war. Und doch brannten wir in den Ferien nicht durch und haben es beide auch später nie bis nach Australien geschafft.

Foto: Anton Kiefer

Für jemand, der sich schon früh in die Namen fremder Länder und Städte verliebte, habe ich uner- klärlich lange gebraucht, um zu einem Reisenden zu werden, der nicht nur in Büchern und Gedanken unterwegs ist. Und dann hatte ich zwar schon halb Europa, vor allem die Regionen im Süden und Osten des Kontinents gesehen, es aber mit der nahen Fremde, mit Österreich, noch immer nicht aufgenommen. Endlich hörte ich von einem Ort, dessen Namen mir mein Heimatland aufs Schönste zu repräsentieren schien, und so bin ich mit bald vierzig Jahren zum ersten Mal in die Steiermark gefahren, um das herrliche Großklein zu besuchen. Darauf dauerte es nur mehr fünfzehn Jahre, bis ich am 21. August 2008 mit meiner Frau von der Westautobahn abfuhr und nach wenigen Minuten tatsächlich das Schild jenes Ortes erblickte, dessen Name mir schon in der Jugend so starken Eindruck gemacht hatte.

Am Hauptplatz von Ybbs sahen wir in der hüb-schen Kirche St. Lorenz die Signatur, die der junge Mozart, als er auf dem Weg nach Wien vorbeikam, dem Holz der Orgel eingekerbt hatte. Wo ist Mozart eigentlich nicht vorbeigekommen? Auf einem Pult war der ewige Kalender der Kirche aufgeschlagen: Alle, die an einem 21. August verstarben, waren auf dieser Seite im Buch der Toten von Ybbs verzeichnet, in der Handschrift verschiedener Geistlicher, die einander über die Generationen folgten. Gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts war die bedauernswerte Adolfina Cäcilia Mildner im Alter von nur zwölf Jahren verblichen, als vorerst Letzter zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Bauer Josef Riesenberger, der es immerhin auf 78 Jahre brachte.

Wir spazierten durch die Lange Gasse, wo an einem Gebäude in der Höhe von drei Metern eine Linie gezogen war: Bis hierher hatte 2002 das Hochwasser der Donau gereicht. Das war erst sechs Jahre her, doch nichts sonst schien an den Häusern, die etwas feiertäglich Herausgeputztes hatten, noch von der verheerenden Überschwemmung zu zeugen. An einem anderen Haus in der Langen Gasse erinnerte eine Tafel an Gregor Joseph Werner, den Kompositionslehrer Joseph Haydns. Mozart, Haydn … War Schubert nie bis nach Ybbs gelangt?

Kein Mensch ließ sich sehen, auf der Straße, im Garten, kein Geräusch fiel aus den Fenstern der Häuser nach draußen, weder ein Radio, das gespielt, noch ein Kind, das geschrien hätte. Auf der Terrasse des geschlossenen Nostalgie-Cafés Sidamo stießen wir auf zwei Dutzend Untote, alterslos in ihrer Erschöpfung verstummt, die an ihren Kostümierungen als demoralisierte Mitglieder einer Radlertruppe zu erkennen waren.

Mozart, Werner, Haydn, die kleine Cäcilia, der alte Bauer, die Radler, die den Radwanderweg an der Donau verlassen hatten und nach all den Anstren-gungen ausgerechnet in Ybbs die ewige Ruhe zu finden hofften: Das waren die Toten und die Untoten. Wo aber waren die Lebenden? Der ganze Ort schien von seiner Einwohnerschaft verlassen worden zu sein und wie in einem ewigen Mittagsschlaf zu liegen. Es war in der Herrengasse Nr. 12, dass wir ein Schild entdeckten, das auf die Praxis eines Sexualtherapeuten im ersten Stock des schmucken Hauses hinwies. Ah, dachte ich erleichtert, wo sich Sexualtherapeuten ansiedeln, dort muss es auch Menschen geben, echte Menschen mit ihren Sehnsüchten und ihren Unzulänglichkeiten. So ist es uns gelungen, auch Ybbs zuversichtlich zu verlassen.

Sabine Gruber

Passeirer Timmelstal, Tirol

Foto: Anton Kiefer

Kein Adler in Sicht

Noch kann man den Jochwind spüren, er verbläst die Wolken. Die Bauern sagen, bis zum ersten Schnee dauere es noch Tage. Mindestens zehn.

Beatrice geht schon seit Stunden, steigt den Berg hinauf. Kein Kraxenträger in der Nähe, keiner dieser hilfreichen Männer, die sonntags zum Heiligen Sankt Leonhard beten, dem Schutzpatron der Fuhrleute und Rösser, der Maultiere und Träger.

Mit ihr ist niemand. Nur die Angst vor Mister Pettigrew. Der Ekel vor seinen Avancen.

Mister Pettigrew, Ladeninhaber in Kentucky, liebt Beatrice, doch da sie seine Gefühle nicht erwidert, streut Pettigrew vernichtende Gerüchte über die schöne Dorflehrerin. Sie habe seinen Sohn Edward sexuell belästigt, besitze keine Moral.

Beatrice setzt einen schweren Schuh vor den anderen. Flieht vor den Fingern, die auf sie zeigen, vor den spuckenden Dorf- frauen, vor den anzüglichen und unflätigen Männern.

Der Boden ist buckelig. Überall sind die vom Gletscher ge- bildeten Schutthöcker zu sehen, Hügel, Tümbl, Thymel. Den Saumweg haben schon die Fugger und Welser auf dem Weg in den Süden gewählt. Beatrice steigt höher. Die Luft wird dünner. Pettigrew ist überall. Kentucky ist überall.

Der Bergadler zieht seine Runden, fliegt übers Joch und kehrt wieder zurück, weiße Flecken auf Haupt und Gefieder, als habe sich Schnee festgesetzt. Schnee vom letzten Jahr. Schnee von den Gletschern. Neuer Schnee aus alten Landschaften.

Mister Pettigrew hat Beatrice aufgelauert. Er will ihr an die Wäsche. Du leichtes Mädchen. Du geile Lehrerin. Wenn du mein Unglück nicht beendest, zerstöre ich dein Glück.

Beatrice ist in die Berge geflüchtet, sie blickt ins Tal, in die tiefe, unvergletscherte Kerbe, welche die Natur in den Alpenhauptkamm geschlagen hat, geht weiter, steigt dem Himmel zu. Vor ihr Blau und Grau und Dämmerlicht. Ein Murmeltier warnt die anderen, pfeift – und alle verschwinden in den Felsvorsprüngen und Erdlöchern. Kentucky ist überall.

Pettigrew ist nicht überall.

Mitten im Geröll steht John Fear O’ God Fulton, der Einsiedler und Retter, der Mann der Berge, Herr der Kerbe, ihr per- sönlicher Timmelstalkönig. Beatrice bleibt bei ihm, lebt mit ihm, kriegt von ihm ein Kind.

Wohin die Dorffinger jetzt zeigen, weiß sie nicht. Sie will es nicht wissen.

Der Bergadler ist ausgeflogen. Ruhe am Himmelszelt. Glücks- sterne. Leuchtendes Blau. Kein lautes Atmen. Keine Beschwernisse. Schuhe, leicht wie Federn.

Und was für ein Ausblick, was für eine Zukunft.

Bis Edward verschwindet, Mister Pettigrews Sohn. Keiner weiß, wohin.

Pettigrew, der Ungeliebte, der Verschmähte, glaubt es zu wissen.

Der Bergadler kreist wieder über dem Joch, kreist über Ful- tons Hütte. Der Eremit sei schuld. Er habe Edward entführt und getötet. Man findet Edwards Körper nicht, nur ein totes Mur- meltier, verendete Dohlen. Fulton wird abgeführt, verurteilt. Und dann erkrankt auch noch sein Kind, sein gemeinsamer Sohn mit Beatrice.

Der Jochwind schweigt.

The Mountain Eagle ist seit Jahrzehnten verschollen, ein 57 Minuten langer Stummfilm von Alfred Hitchcock, 1926 auf Nitratbasis gedreht – Material, das nicht hält. Selbst wenn es die Filmrollen noch gibt, sind sie möglicherweise zerstört.

Der Schnee fiel früher als angenommen. Um die letzten Szenen drehen zu können, mußte er geschmolzen werden. Die Hüttenbesitzerin war außer sich, weil Wasser in die Zimmer eingedrungen war. Hitchcock soll unter Übelkeitsanfällen gelitten und sich beklagt haben, daß im Timmelstal keiner Englisch spreche. Den Verlust des Films hat er nie bedauert, er fand ihn schlecht.

Edward, Pettigrews Sohn, tauchte wieder auf und alles wurde gut in Kentucky.

Stille im Hochtal. Kein Adler in Sicht.


Xaver Bayer

Penzing, Wien

Schön ist es, Gegenstand der Welt zu sein. (Jorge Guillén)

Die Zeit wälzt sich in größer werdender Seelenruhe über sich selbst hinweg, für sie sind wir Luft, in diese schreibt sie ihre Signatur. Sie durchtaucht uns und geht durch uns durch, und wie in einem Netz bleibt da allerhand hängen, worin man sich verstricken kann. Aber einen Blick hinunter auf die Gleise, und schon sind wir Entlastungszeugen der weggeworfenen Dinge am Streckenrand: Dosen, Schuhe, Plastikverpackungen, Tennisbälle, Autobatterien, Zeitungsfetzen. Und diese Dinge entlasten im Gegenzug uns. Wir können dem, was sich zeigt, zur Seite stehen, es mit Betrachtung schmücken und mit Gedanken unterfüttern, das ist unser Anteil. Wie die Putzervögel zwischen den Zahnreihen des aufgerissenen Krokodilrachens umherspringen und sich die Speisereste holen, so holen wir uns aus dem Anblick der Welt, was sie eben hergibt. Was uns dabei entgegenkommt: All ihre Gegenstände sind wie Schwämme, sie suchen die Nähe zu unserem Gespür. So sammelt sich mit der Zeit einiges an und schafft einen Wust von Erinnerungen, den man mit sich herumschleppt wie Django seinen Sarg.

Aber kommen wir endlich zum Thema: Allem Anschein nach sind wir von zuhause aufgebrochen, als es Winter war, haben beim neuen Supermarkt-Parkplatz den Bahnhof betreten, sind in den bereits abfahrbereiten Zug gestiegen, und einige Wochen oder Monate später kommen wir am Ziel an. Auf dem Perron die langen Schatten der Frühlingsmorgensonne. In eine Ecke der offenen Wartekabine hat der Wind Styroporkrümel und Viburnumblätter geweht. Die noch wintermüden Fliegen auf den Mauervorsprüngen bleiben sitzen, selbst wenn man nahe an ihnen vorübergeht, als vertrauten sie auf das milde stimmende Sonnenlicht, zu milde, um einer Fliege etwas zuleide zu tun.

Foto: Anton Kiefer

Da stehen wir also schon am Bahnsteig, sehen dem wieder abfahrenden Zug nach. Die wenigen anderen Ausgestiegenen sind bald verschwunden, das leiser werdende Geräusch ihrer über das Pflaster des Perrons gezogenen Rollkoffer klingt wie das Poltern hüpfender Eier in einem Topf mit kochendem Wasser. Wir zögern noch, uns ihnen anzuschließen, und schenken unsere Aufmerksamkeit der Umgebung, dem Abbruchhaus auf der anderen Seite, von dem nur mehr die Außenmauern erhalten sind, und durch die Rechtecke, die früher Fenster waren, leuchten die bunten Helme der Bauarbeiter, die dahinter mit Schaufeln über den Schutt steigen. Daneben eine Fabrik und ein paar Wohnhäuser, hie und da ein Baum. Ein Kind auf einem Roller. Bettzeug, das über dem Geländer eines Balkons hängt. Und wie durch ein Wunder glitzert der nahe Kanal in der Sonne: Als sollte man glauben gemacht werden, dass man mitverantwortlich ist für den Zusammenhalt und Fortbestand all dessen. Und tatsächlich könnte man jetzt unberufen aufs Dasein, auf die Gegenwart schwören.

Drüben, auf der anderen Seite, der alte Tauben-markt, nur noch eine Frage der Zeit, bis auch dieses Gebäude abgerissen wird. An seiner Seite eine Gruppe Fahrender. Einer schneidet Scheiben von einem Brot, reicht sie den anderen, dann stehen sie kauend und lachend herum und kümmern sich nicht um die wenigen Passanten, die ohnedies einen Bogen um sie machen. Sie sehen wie die letzten echten Menschen aus, würdig und verdammt, alles zu überleben.

Die Straße führt weiter, die Bahntrasse entlang, und biegt bald, wie von Fliehkraft gezwungen, in ein Wäldchen. Sähen wir es aus dem Fenster des vorüberfahrenden Zuges, würden wir uns gerne an der einen oder anderen Stelle ins Dickicht schlagen, nur um dort zu sein, wo wir früher noch nie waren und später nie mehr sein werden.

Doch sind wir abgekommen. Wovon war die Rede? Wie lautete die Aufgabenstellung? Was ist uns damals beim Steigen über die Stufen dieser Bahnüberführung mit ihrem winterkalten Handlauf an Last vom Herzen genommen, was hinzugefügt worden?

Noch ein letzter Blick auf den Basaltschotter zwi-schen den Gleisen, als gäbe es dort vielleicht noch etwas zu entdecken, was uns den Aufenthalt hier verständlich machen könnte, dann sind auch wir schon zur Gänze aus dem Bild verschwunden.


Friedrich Achleitner

Dorf, Oberösterreich

orte sind namen
österreich besteht aus orten. wo du hintrittst ist ein
ort. die meisten orte sind unsichtbar und haben keine
namen. erst wenn sie fotografiert werden, kann man
sie sehen. die unsichtbarsten orte sind gefährlich.
mehr aber noch die sichtbaren. da sagen dann die
touristen, schau, das ist ein ort. die meisten orte haben
keine häuser, aber manchmal liegt schnee auf den
wiesen. die leute sind verrückt nach schnee. mehr
noch, wenn keiner da ist. das dorf ist eine erfindung
der bauern. die dörfer sind meistens gleichmäßig
verteilt. manche dörfer haben keine landschaft. aber
einen bahnhof. dörfer ohne bahnhof nennt man ein
nest. aus diesen nestern kann man aber nicht
hinausfallen. aber man kann die nester beschmutzen.
der österreicher ist ein nestbeschmutzer. dann sagt
er: hier ist alles beschissen. das zu sagen ist aber
verboten. wer dabei erwischt wird, ist kein patriot. wer
als kein patriot erwischt wird, muß zehnmal die
bundeshymne singen. das können aber in österreich
höchstens fünf parlamentarier. und die sind alle
unmusikalisch. die meisten orte sind aber ohnehin zu
laut, auch wenn sie unsichtbar sind. drum bin ich so
froh, dass alle unsichtbaren orte so schön fotografiert
wurden, bravo.

Péter Esterházy

Stainz, Steiermark

Wörtersee

It’s only words, and words are all I have to take your heart away. (Bee Gees)
Words and (…). (Ludwig Wittgenstein)

ich ungar, nix daitsch. nur um zu wissen. darum wörter wie steine haufen aufeinander. nix satzbau.

obwohl satzbau sehr schön. very nice, ich liebe satzbau. auch wörter liebe. eventuell menschen, aber das gehört nicht hierher. ausgangspunkt: foto. dieses foto nicht kommentieren, nicht beschreiben, sondern individuellen blick werfen auf einen speziellen ort in österreich. ich werfe

Foto: Anton Kiefer

stainz. das gruber-schilcher-rauch-hof magische dreieck. also wenn stainz, dann gruber. r. p. gruber. wenn gruber, dann hödlmoser. großes buch. ich liebe buch. hatte buchidee hödlmoser umschreiben, hinein ins ungarische. statt hochgebirgetrottl (bernhards wort) tiefebenetrottl. gute idee, guter plan, aber werde nie machen. zu gut, also zu einfach. oder zu kompliziert. einfach kompliziert, mit verlaub. aber sprechen kann man darüber. also vorstellen: die welt ist das buch aus dem leben hödlmosers. alles ist dieses buch, und außer des buches gibt es nichts. buch ist ganze welt, immer. per definitionem, sozusagen.

hödlmoser ist steirer. steirerblut ist kein himbeersaft. aber für mich ist er ungarisch, total hungary. zum beispiel wie er spricht, ist heut ein schöner tag oder hab ich heut einen durst oder bin ich heut geil! ungarischer hödlmoser ist pusztakind. pusztakindblut ist auch kein himbeersaft.

geografisch gesehen ist die puszta als bundesland ungarns geografischer standteil ungarns. die bestand ungarns hängt von seinen teilen ab, die seine bestandteile bilden. so würde mein buch anfangen. dann kämen solche schöne sätze wie: uns pusztakindern hat der herrgott ein herrliches land geschenkt. oder die typologie des pusztakindes. weil das pusztatum bauerntum ist, das bauerntum sich aber am liebsten auf dem felde aufhält, ist das feldpusztakind wohl das gängigste pusztakind typus. dann gibt es noch das waldpusztakind, das flusspusztakind, das bachpusztakind. besonders spannend wird bei dem begriff bergpusztakind. ein contradictio in adjecto, aber wie eminent ungarisch! (keine zeitgenössische innerungarische politische beispiele!)

ich komme langsam in versuchung, dieses ungarisches hödlmoserbuch doch zu schreiben. fürchte aber, daß das buch, das ungarische, nur auf diese weise, wie ich hier gezeigt habe, also auf deutsch funktioniert. nix praktisch. wie selbsttor. die angst des schriftstellers beim schreiben. ach, wie platt!

stainz. wenn stainz, dann früher oder später schilcher. daß der schilcher ein wein ist und sogar genießbar – das ist ein lernprozess. lernen, lernen, lernen, so sprach der große lenin, so haben wir es damals in der schule gelernt. es ist lange her. aber jetzt hat es geholfen. ich öfters in stainz. wohnen rauch-hof. rauch-hof ist gut. karin rauch essen, willi rauch trinken. forellenteich. literatursommer. (regie: doris gruber) mit urs widmer zum beispiel. nicht mehr. urs nicht mehr. wo ist urs? natürlich im himmel. aber wo ist himmel.

auf einmal schlechte laune. auf einmal ich geschlossen.
wie Glaskäfig Giraffe. geschlossen schreiben geht nicht.
nur offen schreiben geht.

altes, afrikanisches sprichwort: wörter sind zwar schön, aber eier legen, das tun die hühner. nix einverstanden, aber guter letzter satz.


Monika Helfer

Afritz am See, Kärnten

Foto: Anton Kiefer

Afritz kann an vielen Orten sein. Ich kenne diese Tapete, und ich kenne auch das Holz, das gab es im Wohnzimmer meiner Tante genauso. Darunter war das Sofa, auf dem ich schlief. Es war kalt, Eisblumen wuchsen an den Fenstern. Zu Weihnachten stellte die Tante den Christbaum auf den runden Tisch und heizte "handwarm" und heizte noch zu Silvester und zu Neujahr, dann war Schluss damit. Ich lag auf dem Sofa, daneben stand ein Stuhl, damit ich in der Nacht nicht hinunterfalle, aber ich bin oft über den Stuhl auf den Boden gefallen, wenn mir zum Beispiel von Schlangen träumte. Ich zählte die Blüten an der Tapete, als meine Mutter gestorben war, zählte die Zweiglein und die Rillen im Holz, bis ich einschlief.

Zu Silvester kamen meine Onkel, und ich sollte ihnen nach Mitternacht ein Gutes Neues Jahr wünschen – "anwünschen". Meine Schwestern und meine Vettern taten das brav, und sie bekamen dafür zwanzig Schilling. Die Onkel, schwer angeheitert, hatten die Scheine locker in der Tasche. Ich weiß nicht warum, aber ich weigerte mich, ihnen ein Gutes Neues Jahr zu wünschen. Ich versteckte mich hinter dem Vorhang. Der Onkel, den ich lieber hatte, redete mir zu. Der andere zerrte mich hinter dem Vorhang hervor.

"Sag es jetzt!", brüllte er. "Sag es!", flüsterte er. "Sag es!", brüllte er. "Bitte, bitte, bitte", säuselte er. "Verdammtes Miststück!"

Vom Bierrausch stand er unsicher. Er fasste in seine Hosen- tasche und holte ein paar Scheine hervor, flatterte mit einem Fünfziger vor meiner Nase herum, ich hielt den Blick gesenkt.

Der gute Onkel sagte: "Gib ihr einen Hunderter, dann sagt sie es."

"Glaubst du, das tu ich nicht? Du glaubst also, das tu ich nicht."

"Tu’s oder tu’s nicht", sagte der gute ruhig.

Der böse Onkel fächelte mit einem Hunderter erst sein, dann mein Gesicht. Als wär’s heiß, als wär Sommer, als lägen wir am Strand von Caorle. Ich wusste, seine schöne dicke Frau hatte einen Liebhaber, einen Versicherungsvertreter, mit dem sie gern Foxtrott in der Küche tanzte. Ich wusste auch, dass er eine Geliebte hatte, die auf den Strich ging. Der gute Onkel war nicht verheiratet. Er spielte prima Schach. Im Wirtshaus saßen sie an einem Ecktisch, der gute Onkel mit dem Schachbrett vor sich, er wartete auf einen Gegner, den er dann ausnahm. Der böse soff einfach.

"Hört auf!", fuhr die Tante dazwischen. "Lasst sie! Sie spinnt! Sie wird schon wieder normal."

"Aber dann ist es vielleicht zu spät", sagte der böse Onkel. "Mein Hunderter hat Heimweh."

Ich war in Versuchung, als ich den Schein so knapp vor mir sah. Ich dachte, was könnte ich alles damit kaufen. Aber ich wusste, meine Vettern würden mich zwingen zu teilen, und am Ende hätte ich nicht mehr als einen Zwanziger. Wenn überhaupt.

Als ob der gute Onkel meine Gedanken hätte hören können, sagte er: "Versprich ihr, dass sie mit deinen Fratzen nicht teilen muss. Niemand darf ihr den Hunderter nehmen. Versprich ihr das!"

Die Vettern waren älter als ich und waren grob, der eine riss mit Freude den Fliegen die Flügel aus, nur weil das in einem Buch vorkam. Einmal hat er meiner Schwester gedroht, ihr die Zöpfe abzuschneiden, er wollte in der Nacht mit der Schere kommen. Sie hielt sich beide Hände an den Kopf und riss die Augen auf. Da nahm er ihren Handarbeitskorb mit den schön gerollten bunten Wollkugeln, den geordneten Nähnadeln, den feinen Garnen, Häkel- und Stricknadeln und warf ihn ihr mit aller Wucht an den Kopf. Der würde mir das Geld nicht lassen.

"Hast also genug Geld", sagte der böse Onkel und steckte

den Hunderter wieder ein. Und dann zog er seine ganze Banknotenrolle aus der Tasche. "Und wie wär’s damit? Wie wär’s damit? Das möchte ich jetzt sehen! Ein ganzer Monatslohn!"

"Jetzt hör aber auf, du Idiot", sagte der brave Onkel, und die Tante sagte das Gleiche. Der böse Onkel gab seinem Bruder einen Stoß, der fiel an die Tischkante, der Christbaum kippte zu Boden, und das Blut rann dem guten Onkel von der Schläfe über den Hals in das weiße Sonntagshemd hinein. Christbaumkugeln lagen in Scherben, die Tante kam schon mit dem Besen. Der brave Onkel sprang auf und versetzte dem bösen einen Schwinger, dass er fiel, und mit ihm fiel sein Geld, es rollte mir sozusagen in den Schoß.

Die Tante sprach ein Machtwort, jagte uns ins Bett, und weil mein Bett ja im Wohnzimmer war, ging ich zu den Schwestern. Die schimpften mich und sagten, wie kann man nur so stur sein und auf so viel Geld verzichten. Zusammen hätten wir uns eine Strumpfhose kaufen können. Sie hatten ihren Tribut an die Vettern bereits bezahlt

"Wieso wir", sagte ich, "das Geld gehört mir." Ich sagte "gehört mir" und nicht "hätte mir gehört". Der Unterschied fiel ihnen nicht auf. Mir schon.

Das war in Österreich geschehen.

Jochen Jung

Salzburg, Salzburg

Salzburg ist beliebt. Jedenfalls bei Touristen und Salzburgern. Die Wiener und alle anderen finden Salzburg arrogant und geldig. Dabei hat Salzburg, das ja erst vor kurzem von einem sogenannten Finanzskandal erschüttert wurde, sich und der Welt gezeigt, wie man mit sowas umgeht: Erst erregt man sich, und dann spricht man darüber so, wie man immer schon über Geld geredet hat, nämlich nicht. Oder weiß inzwischen irgendwer in Salzburg, um wie viel Geld es eigentlich ging, wo es geblieben ist und wer es verschoben hat? Wenn sich jetzt die Wolken über der Stadt zusammenschieben, dann sind es nicht mehr die, aus denen damals alle Salzburger gefallen sind, sondern die für den sogenannten Schnürlregen, eine Abart des kontinentaleuropäischen Dauerregens, der hier in Wahrheit nicht häufiger fällt als in Kiel oder Genf.

Foto: Anton Kiefer

Wenn es nicht regnet, muss nicht gleich die Sonne scheinen, aber man kann einen Gang in die Stadt machen und sich im Kaffeehaus mit einer Freundin treffen, oder man sattelt ab und setzt sich auf eine Steinbank mitten in der Stadt, dort, wo früher eine Tankstelle für Pferde war, und redet über die Kinder und Enkelkinder oder über die Männer, die eigenen oder überhaupt. Oder über Salzburg.

Hört man den Politikern zu, dann muss man meinen, Salzburg sei vor allem ein Verkehrsproblem. Das hängt damit zusammen, dass die Stadt schon sehr alt ist und erfunden wurde, als die Salzburger Touristen noch alle aus Rom kamen, zu Fuß, zu Pferd oder, selten genug, mit der Kutsche.

Pferde gibt es heute nur noch am Stadtrand oder, typisch Salzburg, als Kunst (und von der versteht man hier was). Da ist es dann auch möglich, dass die Pferde herumtollen wie die jungen Hunde, was die festspielgestählten Salzburgerinnen aber völlig kalt lässt. Im Übrigen ist Salzburg normaler, als es denkt. Und wohlhabender. Und schöner.

Verena Rossbacher

Bregenzerwald, Vorarlberg

Foto: Anton Kiefer

Im Wald will man dichten

Häuser dieser Art gibt es ja überall in Österreich, wo’s halbwegs ländlich wird. Hinter diesen Schindeln aber verbirgt sich ein Menschenschlag, der mit dem Bregenzerwälderischen landesweit unangefochten das unverständlichste, ja, mysteriöseste Idiom überhaupt spricht – mitunter wird gemunkelt, die Wälder selbst verstünden sich nicht einmal untereinander, was aber eine gemeine Unterstellung ist. Der Wälder berichtet und dichtet und singt schandbar gern und vor allem in Gesellschaft, und alle lachen fröhlich und tun mit – jeder, der einmal eine ihrer legendären Veranstaltungen besucht hat, wird dies sofort bestätigen –, sichtbar leuchtet ihnen hundertprozentig ein, was sie mit diesen erstaunlichen Wörtern sagen wollen.

Ich habe mich bis anhin zu meinem größten Be-dauern nicht als feinsinnige Lyrikerin hervorgetan – in unbedachten Momenten ließ ich mich gar dazu hinreißen zu behaupten, Gedichte seien Witze für Irre – was ich nun aber unter dem Deckmantel dieser schönen Sprache endlich ändern möchte. Es ist mir völlig schleierhaft, warum ich erst derart spät die herrlichen Weiten der Dichtkunst entdecke, wo sonst hätte das zärtliche Gefühl, die schmerzliche Herzenot und das wonnigliche Auf und Nieder der Liebesdinge eine schönere Heimat als in ein paar schwelgerisch knappen Zeilen? Umso herzhafter möchte ich darum meinen Einstand ins Lyrische feiern mit: Der schlampige Hase, eine zarte und nachdenkliche Ode an eine schlecht frisierte Häsin mit dem damit verbundenen Appell, etwas mehr aus ihrem Typ zu machen – Gott sei Dank aber kommt dem mahnenden Hasenliebhaber alsbald die Moral, und er erkennt sich selbst als verlotterten Springinsfeld, als krakeelenden Luftikus, und wie Schuppen fällt es ihm von den Augen, dass er mit dieser etwas zerzausten Hasendame eine Mordsgaudi haben könnte, weitaus eher natürlich, als mit einer dieser gepuderten Hoppeltussis. Happy End also auf jeder Linie, und das ist ja immer das Wichtigste, ob in der diffizilen Kunst des Poems oder in der eher simplen des Romans – jeder Wälder wird das mit eleganten Worten rundum bestätigen.

Dr höttlat Hasa

Hui!
töod it so gfüdlat ôdr hëandôrföor
Bischt eppa ôan Fidëbus
ôan Kretzbiß vîliecht
vôrgitzlôscht am Môargô vorm Schpieogl
ôdr wia tuoscht äs eschplîzieorô
î wär ôan Schmelgôschmeckar
abr bi dera vôrbôahrôt Schparglamëntôr bin î
vôrdattôrôt und ghörîg artschtông
Sa nu sa weard as mit üs nu Maläscht
Drum gib dr ôan Fùdlaschprung
odr lômars sinn
as döttôrlôt môr
kloans Häslä
amol nu zrûckschträälô und mir töond zämmôgông
wobi
gad muon î ùbôrleggô
losna Häslä
bliib wiad bischt
î ôan föôtîg Schprîngginggl
ôan Lallë
und du ôanë lòatschôle Hôôrül
salbôndôr wärs barëntîg ôan Gschpass
und du und î
mir hättuons frie

Johannes Gelich

Braunau, Oberösterreich

Zum bayerischen Löwen

Foto: Anton Kiefer

Der letzte Ausflug, den ich mit meiner geliebten Erbtante Trude unternahm, führte uns nach Braunau, wo sie als die jüngste Tochter der Bäckersfamilie Nöbauer im sogenannnten Rabenhaus aufgewachsen war. Das Rabenhaus wurde Ende des 15. Jahrhunderts errichtet, gehörte damals zu den Mautanlagen der Stadt und diente gleichzeitig als 4-stöckiger Speicher. Im frühen 18. Jahrhundert beherbergte es eine Brauerei, später war es Amts- und Wohnsitz von Johann Gottlieb Kattenpeck, dem Mautner zu Braunau. Seit damals befindet sich der Bayerische Löwe auf dem mit 24 Meter höchsten Giebel im Altstadtbereich.

Aus Tante Trudes politischer Gesinnung wurde ich eigentlich nie schlau. Einerseits sprach sie immer von der großdeutschen Tradition meiner Braunauer Verwandtschaft, aber in Wirklichkeit hing sie, die, laut eigenen Angaben, ihre schönsten Tage während der Nazizeit in Krems verbracht hatte, einem völlig widersprüchlichen (deutschnationalen) Monarchismus an. Namen wie Herzkind, Grünfeld oder Liechtenstern durfte ich in ihrer Gegenwart nicht in den Mund nehmen, da solche Namen zumeist die unerträgliche Frage "Ist das ein Jud, oder was?" nach sich zogen. Gleichzeitig verschlang sie Autoren wie Werfel, Schnitzler, Zweig oder Joseph Roth allabendlich als Bettlektüre. Als wir eines Abends in Salzburg nach einem Heurigenbesuch mit dem Taxi nach Hause fuhren und der grauhaarige Taxifahrer über die überhandnehmenden, Taxi fahrenden Neger wetterte, fuhr sie ihm über den Mund und erklärte, Afrikaner seien genauso Menschen wie du und ich, sie habe eine serbische Putzfrau und ihre Stojna liebe sie über alles. Der Taxifahrer wurde ganz kleinlaut und bekam von ihr keinen Cent Trinkgeld. In einem der wenigen klarsichtigen Momente, in denen sie über ihre Pläne für ihren Lebensabend räsonierte, verlautbarte sie eines Tages, sie würde am liebsten zuhause sterben und von einer Krankenschwester aus Rumänien (natürlich nur aus dem Teil der k.u.k. Monarchie!) gepflegt werden, die bei ihr wohne und sich um sie kümmere, wenn es zu Ende ginge. Dem Größenwahn unserer Familie entsprechend, betrachtete sie sich als feine Dame und eine der letzten Repräsentantinnen des in der Monarchie untergegangenen mondänen Weltbürgertums, auch wenn ihre Attitüde als Waschweib diesem Ideal bisweilen konträr entgegenstand.

Als wir verloren vor dem Rabenhaus standen (Ich will nicht anläuten, ich will mit dieser Bagage nichts zu tun haben!), fragte ich mich, wie oft der junge Hitler hier im Auftrag seiner Mutter wohl Brot gekauft hatte. Ich blickte hinauf zum Bayerischen Löwen, der wie ein politischer Wetterhahn über dem Giebel thronte und für die Braunauer Verwandtschaft wahrscheinlich die ideologische Denkrichtung vorgab: Man fühlte sich wohl mehr bayrisch als österreichisch – nicht von ungefähr übersiedelte Hitler 1913 nach München, um sich dem Wehrdienst in der österreichisch-ungarischen Armee zu entziehen. Im August 1914 trat er denn auch als Kriegsfreiwilliger in das Bayerische Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 16 (Regiment "List") ein.

Der Bayerische Löwe und meine Braunauer Verwandtschaft. Dieses Bild wird mir immer deutlich vor Augen bleiben: wie sich Tante Trude mühsam und ächzend auf den klackenden Krücken hielt, auf der Straße vor dem Rabenhaus der Nöbauerschen Bäckerei auf und ab wackelte und ihrer Geburtsstadt einen letzten, allerletzten schmerzhaften Besuch abstattete. Einige Jahre später starb sie, nicht in den Armen einer Rumänin aus dem Altreich, sondern in einem sterilen Krankenhaus, umgeben von Schläuchen und elektrischen Geräten. Der goldene Bayerische Löwe thront noch immer über der Stadt Braunau, für mich wie ein Menetekel drohenden ideologischen Unheils, das aus Symbolen Idole und die Menschen keinesfalls glücklicher macht.