Medins linkes Auge ist mit einer dicken Mullbinde verklebt. Gemeinsam mit ihrem Mann sitzt die 60-Jährige eingehüllt in eine graue Decke auf der Veranda eines kleinen, einfachen Betonbaus, um sich auszuruhen. Es ist noch keine zehn Minuten her, da wurde Medin hier von einem Mediziner am Augenlid operiert. Es war ein kleiner, schneller Schnitt, der allerdings sicherstellen soll, dass Medin nicht noch mehr an Sehkraft einbüßt oder sogar erblindet.

Fast acht Jahre ertrug Medin die schmerzhafte Augenkrankheit Trachom, ohne Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nach mehreren bakteriellen Infektionen schützen ihre Wimpern das Auge nicht mehr, sondern haben sich nach innen unter das Augenlid gekrümmt. Mit jedem Lidschlag haben sie seither an der Hornhaut ihres Auges gekratzt und sie beschädigt. "Ich sehe jetzt nur mehr verschwommen", sagt Medin. Die Sehschwäche und dauernden Schmerzen haben es ihr unmöglich gemacht, ihrer Arbeit am Feld nachzugehen und zum Familieneinkommen beizutragen.

Medin (rechts) mit ihrem Ehemann kurz nach der erfolgreichen Operation, bei der ihr Augenlid stabilisiert wurde.
Foto: Aleksandra Pawloff

Regelmäßig hat sich Medin mit einer Pinzette ihre Wimpern ausgerissen - zur kurzfristigen Schmerzlinderung. Doch Wimpern wachsen nach, und unvollständig entfernte Wimpern reizen die Hornhaut noch mehr. Ein Dorfbewohner hat das Ehepaar schlussendlich darauf aufmerksam gemacht, dass Medin kostenlos eine Lidoperation durchführen kann, um das Kratzen loszuwerden und die drohende Blindheit abzuwenden.

In Europa ist Trachom eine weitgehend unbekannte Krankheit aus längst vergangenen Zeiten. Doch weltweit gibt es immer noch 4,6 Millionen Menschen, die mit akuten Trachom-Beschwerden leben müssen. 1,2 Millionen Menschen sind weltweit daran erblindet.

Eine Tücke der Krankheit besteht darin, dass sie schleichend beginnt. Oft bleibt der Zusammenhang zwischen frühkindlichen Augeninfektionen, die wieder abklingen, und der späteren Blindheit ausgeblendet. In Äthiopien alleine haben neun Millionen Kinder zwischen einem und neun Jahren eine Trachom-Infektion (gehabt). Je öfter die Infektion ausbricht, desto mehr Narben entstehen am Augenlid, die schließlich dazu führen, dass sich die Wimpern nach innen drehen. 1,3 Millionen Erwachsene in Äthiopien sind von diesen Symptomen betroffen, die mittels eines zehnminütigen medizinischen Eingriffs behoben werden können.

Sirup und rosa Pillen

Neben Medin und den anderen älteren Patienten, die auf ihre Operation warten, stellen sich heute Mittag auch junge Mütter mit ihren Kindern für die Medikamentenausgabe an. Vorbeugend schlucken sie Sirup und rosa Pillen, damit die bakterielle Augenentzündung Trachom gar nicht erst entstehen kann. Hier im Norden Äthiopiens ist die Vorsorge besonders wichtig. In der Region Tigray mit insgesamt 5,1 Millionen Einwohnern gibt es Gebiete, in denen die Infektion bis zu 40 Prozent der Bevölkerung betrifft. In den nächsten fünf Jahren wird in diesen hyperendemischen Gebieten deshalb einmal jährlich das Antibiotikum Zithromax flächendeckend verabreicht. Derzeit passiert dies in lokalen Gesundheitsstationen oder Schulen. Wer zu Hause bleibt, weil zu alt oder zu schwach, dem wird von den Medizinern ein Hausbesuch abgestattet.

Patienten warten auf ihre Augen-OP in der Gesundheitsstation.
Foto: Standard/Eder

Dass es gerade hier eine so große Verbreitung der Krankheit gibt, liegt neben der schlechten Wasserversorgung daran, dass viele Menschen miteinander auf engem Raum leben. Oft gibt es Tiere im Haushalt, mehrere Kinder schlafen nebeneinander. Um die Notdurft zu verrichten, geht man aufs Feld, weil es keine Latrine gibt. Oft reichen Fliegen oder ein schmutziges Schweißtuch, damit die Bakterien (Chlamydien) ans Auge gelangen.

Frauen doppelt so häufig betroffen

Der Augenspezialist Amir Bedir Kello von "Licht für die Welt" bezeichnet Trachom als eine Frauen- und Kinderkrankheit. Immerhin sind Frauen doppelt so häufig davon betroffen wie Männer. Das liegt zum Teil daran, dass Frauen im Norden Äthiopiens sich großteils um die Kinderbetreuung und den Haushalt kümmern und daher in jenem Umfeld sind, wo die Bakterien am schnellsten übertragen werden. Dabei reicht es schon, wenn zum Beispiel den Kindern laufend das Gesicht mit ein und demselben dreckigen Tuch abgewischt wird, weil kein Wasser für das Hände- und Gesichtwaschen vorhanden ist.

Eine zusätzliche Belastung für Frauen, die selbst an einem Trachom leiden, ist, dass in den allermeisten Hütten der Herd zum Kochen mit Brennholz beheizt wird und dadurch die Rauchentwicklung sehr stark ist. Für viele ist es mit brennenden Augen deshalb unmöglich, die Familie mit Essen zu versorgen. "Das bedeutet dann oft, dass die Tochter zu Hause bleiben muss und nicht in die Schule kann", sagt Amir Bedri Kello, Augenspezialist von Licht für die Welt. Die Krankheit treibt Familien in entlegenen Dörfern so noch mehr in die Armut und insbesondere Frauen in ein Abhängigkeitsverhältnis.

Ein kurzer Eingriff beendet die Schmerzen: Das Lid wird durch Schnitt und Naht stabilisiert, damit die Wimpern nicht mehr hinter den Augapfel gelangen.
Foto: Aleksandra Pawloff

Eine gemeinsame Koalition internationaler NGOs, darunter Licht für die Welt, hat es sich zur Aufgabe gemacht Trachom nachhaltig zu bekämpfen, damit die Krankheit vollständig verschwindet. In Äthiopien soll das bis 2020 passieren. Die Chancen dafür stehen zumindest theoretisch nicht schlecht, denn Trachom ist gut und kostengünstig behandelbar. Die sogenannte SAFE-Strategie (siehe Infobox) der WHO soll dafür sorgen, dass nicht nur akut, sondern langfristig reagiert wird. Dazu gibt es die flächendeckende Verteilung des Antibiotikums Zithromax, das von Pfizer gratis zur Verfügung gestellt wird. Daneben soll aber auch die Aufklärung über Hygienemaßnahmen sowie eine bessere Infrastruktur zur Wasserversorgung helfen, Infektionen einzudämmen.

Äthiopische Gesundheitsarmee

Um die Aufklärung über Krankheiten in den ländlichen Gegenden voranzutreiben, hat die äthiopische Regierung eine sogenannte Gesundheitsentwicklungsarmee ins Leben gerufen. Was martialisch klingt, sieht in der Praxis weit weniger gefährlich aus. In jedem Dorf gibt es eine Frau, die inklusive ihrer Familie als Rolemodel in Sachen Hygiene und Gesundheitsvorsorge gilt. Sie soll das Hände- und Gesichtwaschen zur Routine machen und dazu animieren, dass sich Familien um den Bau ihrer eigenen Latrine kümmern. Fast wöchentlich gibt es dafür Treffen, monatlich erstattet die Aufklärerin der nächsthöheren Instanz darüber auch Bericht.

Eine von ihnen ist Letekidan, 28 Jahre. Seit sieben Jahren kümmert sie sich in einem abgelegenen Dorf May Genet im Norden Äthiopiens um diese Belange, von ihren Nachbarn wurde sie dafür nominiert. Ihre Familie selbst ist auch von Trachom betroffen, eines ihrer vier Kinder leidet derzeit an der Infektion. "Von den 30 Frauen unserer Gruppe haben jetzt schon 28 eine Latrine", erzählt Letekidan stolz. Gleichzeitig macht sie aber auch klar, wie schwierig es ist, auf Hygiene zu schauen. 20 Liter Wasser braucht ein Erwachsener in der Region normalerweise, auskommen müssen im Dorf die meisten allerdings mit nur zehn Litern am Tag.

Letekidans Tochter (oben) hat tränende Augen, sie leidet an einer Trachom-Infektion.
Foto: Standard/Eder

Dass die vernachlässigte Tropenkrankheit wieder in den Blickpunkt gerückt ist, hat damit zu tun, dass in den letzten Jahren vermessen wurde, wo Trachom besonders verbreitet ist. Ausgebildete Teams besuchten ein Dorf nach dem anderen und sandten die erhobenen Daten direkt mittels Smartphone-App an die Zentrale zur Atlas-Erstellung.

In der hyperendemischen Region Tigray im Norden ist für die Eindämmung der Krankheit in den nächsten Jahren ein besonderer Kraftakt vonnöten. Dorthin fließen die Spendengelder von "Licht für die Welt". Und auch die Austrian Development Agency (ADA) stellt bis Mitte 2016 300.000 Euro für die Hygiene- und Infrastrukturkomponenten bereit. "Unser großes Ziel ist, dass in fünf bis zehn Jahren niemand in dieser Region mehr aufgrund von Trachom blind werden muss", stellt "Licht für die Welt"-Sprecherin Gabriela Sonnleitner in Aussicht.

40.000 Lidoperationen in den nächsten fünf Jahren

Mindestens vier Millionen werden dafür in den nächsten vier bis fünf Jahren noch benötigt. Mit den Geldern soll einerseits die Medikamentausgabe fortgesetzt werden, andererseits die Finanzierung der Lidoperation sichergestellt werden. Allein 40.000 Menschen in Tigray müssten in den nächsten Jahren operiert werden. Bisher waren es jährlich gerade einmal 1000 Personen.

Medikamentenausgabe in der Meseret-Gesundheitsstation.
Foto: Standard/Eder

Kein Wunder, gibt es in der Region mit 5,1 Millionen Einwohnern doch nur einen studierten Augenarzt. Tilahun Kirose entschied sich nach längeren Aufenthalten in China und Ruanda, nach Äthiopien zurückzukehren, und richtete im Quiha-Krankenhaus vor sechs Jahren die erste und bisher einzige Augenklinik Tigrays ein. Damit die dringend nötigen Trachom-Behandlungen vom medizinischen Personal auch an Gesundheitsstationen durchgeführt werden können, gibt es hier regelmäßig Schulungen.

Bei Medin ist heute alles glattgegangen. Die örtliche Narkose beginnt langsam zu schwinden. Bald kann sie mit ihrem Mann den beschwerlichen Rückweg ins Dorf antreten. Doch sie wird wiederkommen. "Das zweite Auge muss auch noch dran", sagt Medin. (Teresa Eder aus Mekele, derStandard.at, 29.10.2014)