Thorsten Schulten: "Die Gewerkschaften wollen keineswegs "auf Teufel komm raus" Krawalle verursachen. Streiks sind ein demokratisches Grundrecht."

Foto: WSI

Deutsche Bahn, Lufthansa, Bahn, Lufthansa – nach dem Streik ist vor dem Streik. Ist Deutschland eine Nation des Stillstands geworden? Dem ist keineswegs so, meint der Tarif- und Arbeitsmarktexperte Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI). Das Gegenteil ist der Fall. Die derzeitigen Streiks würden durch das öffentliche Interesse und die Medien hochgepusht.

derStandard.at: Nach der Deutschen Bahn streiken jetzt erneut die Lufthansa-Piloten – zum achten Mal seit April. Herrscht in Deutschland eine Streik-Anarchie?

Schulten: Dieser Eindruck ist völlig falsch. Natürlich sind durch die aktuellen Arbeitsniederlegungen im Verkehrssektor sehr viele Menschen betroffen. Und das erweckt hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Sieht man sich die Zahlen jedoch ganz nüchtern im internationalen Vergleich an, gilt nach wie vor, dass Deutschland – ebenso wie Österreich – eines der streikärmsten Länder ist. Laut Berechnungen des WSI hat sich die Zahl der an Streiks und Warnstreiks beteiligten Beschäftigten 2013 mit rund einer Million gegenüber 2012 (1,2 Millionen) etwas verringert. Selbiges gilt auch für den Streikumfang: 2013 fielen durch Arbeitskämpfe 551.000 Arbeitstage aus. Das waren rund 80.000 Tage weniger als 2012, wie das WSI in seiner diesjährigen Arbeitskampfbilanz ermittelt hat. Das Bild, Deutschland sei ein wildes Streikland geworden, wird von den Medien hochgespielt und ist Unsinn.

derStandard.at: Was heißt "streikarm" übertragen auf die ausgefallenen Arbeitstage?

Schulten: Laut genannter WSI-Schätzung entfielen im Zeitraum von 2005 bis 2012 im Jahresdurchschnitt pro 1000 Beschäftigte zwei ausgefallene Arbeitstage in Österreich, in Deutschland waren es 16, in Frankreich 150, in der Schweiz war es ein Tag.

derStandard.at: Vergraulen die Gewerkschaften mit den Streiks in Serie nicht zunehmend die Bevölkerung?

Schulten: Man sollte nicht vergessen, dass der letzte große Streik der Bahn im Jahr 2007 stattgefunden hat. Die Gewerkschaften wollen keineswegs "auf Teufel komm raus" Krawalle verursachen. Streiks sind ein demokratisches Grundrecht. Wenn Verhandlungen feststecken, ist es also legitim, dieses anzuwenden. Natürlich ist es für die betroffenen Reisenden ein Ärgernis.

derStandard.at: Wie legitim ist es, wenn relativ kleine Gewerkschaften wie Cockpit für die Piloten und die GDL für die Lokführer eine ganze Nation zum Stillstand bringen?

Schulten: Ich glaube, dass hier ein Zerrbild gezeichnet wird. Die allermeisten Streiks in Deutschland werden nicht von kleinen Berufsverbänden, sondern von den im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) organisierten Branchengewerkschaften – darunter insbesondere der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di – durchgeführt. Hierbei geht nicht darum, die Nation zum Stillstand zu bringen. Aber natürlich müssen Streiks auch eine gewisse Wirkung zeigen, weil nur so Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt werden kann.

derStandard.at: In welchen Ländern Europas wird am häufigsten gestreikt?

Schulten: Nach wie vor in den südeuropäischen Ländern, auch bedingt durch Maßnahmen, die den Beschäftigten durch die Krise zugemutet werden. Wir sprechen hier von Lohnkürzungen, Lohnstopps oder Auflösung von Kollektivverträgen. Allerdings sieht man in diesen Ländern auch, dass Streiks nicht unbedingt Ausdruck von Stärke der Gewerkschaften sind, sondern vielmehr ein Ausdruck von Schwäche. Diese Streiks werden häufig genug nicht deswegen geführt, um Verbesserungen herbeizuführen, sondern um Verschlechterungen vorherrschender Verhältnisse abzuwehren.

derStandard.at: Wie sind die Gewerkschaften in den südeuropäischen Ländern organisiert?

Schulten: Hier haben wir es mit einer konkurrierenden Situation zu tun, was zu mehr Konflikten führt und nicht im Sinne der Beschäftigten ist. Unternehmen haben die Möglichkeit, Gewerkschaften und Beschäftigungsgruppen gegeneinander auszuspielen. Der Verlierer ist am Ende der Arbeitnehmer – aus gewerkschaftlicher Sicht keine gute Strategie.

derStandard.at: Wird in Krisenzeiten generell mehr gestreikt?

Schulten: Ich denke schon. Der Charakter des Streiks in Krisenzeiten ist es, bestimmte arbeitsrechtliche Standards zu verteidigen. Gerade Südeuropa erlebt dramatische Veränderungen auf den Arbeitsmärkten: Neben Deregulierung und Absenkung der Löhne werden die Kollektivvertragssysteme zum Teil zerstört. Der kollektivvertragliche Deckungsgrad in Portugal beispielsweise ist innerhalb von zwei, drei Jahren von etwa 80 auf unter 30 Prozent zurückgegangen. Was bleibt also jenen Arbeitnehmern, die noch einen Job haben, anderes übrig, als mit Arbeitskämpfen oder Demonstrationen dagegen zu halten? (Sigrid Schamall, derStandard.at, 20.10.2014)