Opfer von Gewalt, die ihre Erfahrungen nicht verarbeiten, bleiben ein Leben lang davon beeinflusst und geben ihre Ängste an nachfolgende Generationen weiter, sagt Psychiater Klaus Mihacek.

Foto: heribert corn

STANDARD: Derzeit gehen Bilder um die Welt, in denen Terroristen zeigen, wie sie ihre Geiseln enthaupten. Welche Folgen haben solche Videos für den Betrachter?

Klaus Mihacek: Das hängt von den individuellen Voraussetzungen ab. Erwachsene, die sich das im Internet ansehen, wissen, dass sie in Sicherheit sind. Für Menschen, die Gewalterfahrungen haben oder vielleicht aus der Region stammen, ist es viel schlimmer. Für Kinder, die hier aufwachsen, können solche Bilder aber schon traumatisierend sein.

STANDARD: Hat auch Gewalt in Videospielen eine verstörende Wirkung?

Mihacek: Nein, weil Jugendliche wissen, dass sie selbst ja nicht in Gefahr sind. Das macht ja gerade den Nervenkitzel aus. Ein Trauma ist viel mehr als nur ein visueller Reiz. Es ist das bis dahin nie erlebte Gefühl von existenzieller Bedrohung, durch Krieg, Missbrauch, Naturkatastrophen, Vergewaltigung. Es erschüttert die Grundfesten, kann das Selbstverständnis eines Menschen mit einem Schlag verändern.

STANDARD: Warum trägt nicht jeder ein Trauma davon?

Mihacek: Weil die psychische Widerstandskraft von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Wir nennen das Resilienz. Auch das familiäre Umfeld spielt eine große Rolle. Je sicherer das Grundgefühl, umso besser kann man mit schwierigen Situationen umgehen.

STANDARD: Wie behandelt die Medizin Psychotraumata?

Mihacek: Es kommt auf die Art der Traumatisierung an (siehe Wissen). Einmalig traumatisierende Ereignisse lassen sich mit psychologischer Hilfe gut bewältigen. Schwieriger sind Gewalterfahrungen über lange Zeit. Wir haben in den letzten 20 Jahren durch unsere Betreuung von Holocaust- Opfern viel Erfahrung mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) gesammelt und werden unsere Ergebnisse beim Symposium präsentieren.

STANDARD: Können Sie vorab die wichtigsten Erkenntnisse zusammenfassen?

Mihacek: Traumatisierte Menschen brauchen das Gefühl von Sicherheit, das ist ganz zentral. Eine psychotherapeutische Begleitung wirkt unterstützend. Noch viel wichtiger ist aber, dass die Gesellschaft das erlebte Leid von Traumatisierten anerkennt, ihren Geschichten glaubt. Solidarität ist für die Verarbeitung entscheidend.

STANDARD: Sie sprechen von kollektiven Traumata wie dem Holocaust?

Mihacek: Vergleichbar ist das nicht, aber es gibt Parallelen. Viele der Flüchtlinge, die aus Kriegsgebieten zu uns kommen, haben Schreckliches erlebt. Auch wenn man es nicht immer auf den ersten Blick sieht: Sie kommen oft schwer traumatisiert zu uns, suchen Schutz.

STANDARD: Und was, wenn sie kein Asyl bekommen?

Mihacek: Ein negativer Bescheid von den Behörden ist für sie eine Katastrophe, aus psychiatrischer Sicht bedeutet das sehr oft eine Retraumatisierung. Die Behörden glauben den Geschichten nicht. Es passiert täglich, dabei wäre Solidarität, auch Gesten, für solche Menschen lebenswichtig.

STANDARD: Lassen sich Traumatisierungen an Menschen erkennen?

Mihacek: Sie äußern sich unterschiedlich. Zum einen beobachten wir ein Vermeidungsverhalten von verschiedenen Situationen, die an die Gewalterfahrung erinnern, bei KZ-Überlebenden waren es Züge, Uniformen, Bahnhöfe, auch Schäferhunde, die diese Menschen die Kontrolle über sich selbst verlieren hat lassen, was zu dissoziativen Zuständen führt.

STANDARD: Was sind dissoziative Zustände?

Mihacek: Extreme Wahrnehmungsstörungen, das können Krämpfe, Lähmungen, eine Art vorübergehender Identitätsverlust sein, die auftreten, wenn Traumatisierte an die Gewaltsituation erinnert werden; ein Wort, ein Ton, auch Gerüche können solche Auslöser sein. Es passiert eine Art Flash-back. Aber auch Übererregung, Jähzorn, Überreiztheit, Schreckhaftigkeit und Stimmungsschwankungen sind Symptome, ganz abgesehen von Schlafstörungen und Albträumen.

STANDARD: Wie helfen Psychiater?

Mihacek: Ohne Behandlung geraten diese Menschen in einen sehr abgestumpften Gefühlszustand, das so genannte Numbing, auch psychosomatische Beschwerden wie permanente Bauch- oder Kopfschmerzen sehen wir oft. Diese Gefühlszustände beeinflussen auch die Kinder von Traumatisierten. Der Traumaforscher Boris Cyrulnik hat die transgenerationellen Auswirkungen von Traumata systematisch untersucht. Die Aufarbeitung ist gesamtgesellschaftlich gesehen wichtig.

STANDARD: Wie gut wirkt Gesprächstherapie?

Mihacek: Patienten geben das Tempo in der Themenwahl vor. Oft dauert es, bis über Schmerzliches gesprochen werden kann. Nächste Woche spricht auch der Psychiater Bessel van der Kolk zu dieser Frage. Er ist der Ansicht, dass vor allem Körpertherapie Trauma heilen kann. Damit sorgt er für Kontroversen. Wenn Therapie gelingt, beeinflusst das aber sicher nicht nur die Patienten positiv, sondern auch die Identität nachfolgender Generationen.

STANDARD: Was hat Trauma mit Identität zu tun?

Mihacek: Was die meisten Traumatisierten verbindet, ist das Gefühl einer Überlebensschuld. Scham spielt eine große Rolle. Opfer von Krieg oder Folter haben häufig das Gefühl, zu wenig für andere getan zu haben. Der US-Psychiater Harvey Weinstein hat die Auswirkungen des kollektiven Traumas nach dem Balkankrieg untersucht, vor allem was es für die Wiederversöhnung braucht. Aber auch Opfer von sexualisierter Gewalt wie etwa Vergewaltigung meinen oft, sie seien selbst schuld. Das ist Teil der Überlebensstrategie. Wer das nicht verarbeitet, bleibt ein Leben lang davon beeinflusst.

STANDARD: Was ist eine optimale Bewältigung?

Mihacek: Wenn Patienten ihre Sicherheit, ihre Identität zurückerlangen und Erlebtes in ihr Leben integrieren. In unserer Arbeit mit NS-Überlebenden konnten wir das beobachten: Optimal ist, wenn sie es schaffen, Erfahrungen mit Sinn zu belegen, für manche bedeutet das sogar, Bücher zu schreiben, Filme zu machen oder als Zeitzeuge zu sprechen, um zu warnen, zu erklären, aufzuklären. (Karin Pollack, DER STANDARD, 18./19.10.2014)