"Die Masken sind gefallen", verkündete der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu. Wieder einmal ein Komplott in der Türkei aufgedeckt: Die Opposition hat Anfang Oktober die "Kobane-Vorfälle" arrangiert, die gewalttätigen Zusammenstöße zwischen Kurden und Polizei, PKK-Kurden und Hisbollah-Kurden, Kurden und Nationalisten.
"40 Menschen starben, 350 Personen wurden verletzt", erinnert die türkische Satirezeitung "Girgir" dieser Tage und zeigt auf ihrer Titelseite eine kurdische Mutter in ihrer ärmlichen Behausung. "Auch heute bin ich nicht gestorben, Mutter!", sagt der Sohn am Telefon, was Aufruhr und Verzweiflung der Kurden über die Tatenlosigkeit der türkischen Regierung angesichts des Angriffs der Islamisten auf die syrisch-kurdische Grenzstadt Kobane widerspiegeln soll, aber auch die gewaltsame Niederschlagung jeglicher Proteste der Kurden in der Türkei durch dieselbe Regierung. "Gott sei Dank, mein Lämmchen!", antwortet die Mutter mit Tränen in den Augen.
"Neue Türkei, alte Panzer", stellt "Leman", ein anderes Satireblatt, fest und zeigt Tayyip Erdogan, der auf einem Geschützrohr reitend den Soldaten den Befehl "Vorwärts!" gibt – allerdings gegen die Kurden in den türkischen Städten, die wegen Kobane auf die Straße gingen (und noch gehen: am Sonntag etwa im Istanbuler Stadtteil Kadiköy), nicht etwa gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" in Kobane.
"Neue Türkei" heißt die Formel, mit der die regierende konservativ-sunnitische AKP nach zwölf Jahren an der Macht nun wirbt: ein wirtschaftlich starkes Land, von der Vormundschaft der Armee befreit, demokratisch und eine wichtige Stimme auf der internationalen Bühne. Für "Leman" erinnert die "neue Türkei" mit ihren Ausgangssperren in den mehrheitlich kurdischen Provinzen aber an die Panzer aus der Zeit des Militärputschs von 1980.
"Was hat Kobane mit der Türkei zu tun?"
"Penguen" spottet deshalb über die Standardformel, mit der Erdogan und auch sein neuer Premier Davutoglu üblicherweise ihre öffentlichen Schaureden beginnen: "Von hier aus grüße ich den ganzen Mittleren Osten!“ Erdogan suggeriert damit seinem türkischen Publikum, dass das, was er nun sagt, die halbe Welt unmittelbar interessiert und diese auch aufmerksam zuhört, was ihr der türkische Präsident zu sagen hat, die rechte Hand zur "raaba" geformt, den vier Fingern des ägyptischen Widerstands der Muslimbrüder gegen die Armee.
"Wir haben mit dem Mann nichts zu tun ...", denkt sich jedoch ein kurdischer Familienvater, der auf der syrischen Seite der Grenze mit seiner Familie sitzt, auf der Flucht vor der IS. Er übernimmt dabei den Satz, den Erdogan nach den Zusammenstößen in den türkischen Städten sprach: "Was hat Kobane mit der Türkei zu tun?" Würde Erdogan es ehrlich meinen mit seiner Nahost-Grüßerei, dann unterstützte die Türkei nun die syrischen Kurden im Kampf gegen die Islamisten, soll das heißen.
Regierungsgegner mit abgeschnittenem Kopf
Doch das Verhältnis der türkischen Führung zum "Islamischen Staat" in Syrien und im Irak ist etwas komplex, wie im Lauf eines Jahres deutlich wurde: medizinische Behandlung von verwundeten IS-Kämpfern in türkischen Spitälern, offenbar ohne Internierung oder Ausweisung nach der Entlassung; Indizien für Waffenlieferungen und andere logistische Hilfe; sehr wahrscheinlich Kenntnis über den Schmuggel von Treibstoff aus improvisierten IS-Raffinerien in Syrien auf die türkische Seite.
"Uykusuz" spielt auf diese Nähe der Türkei zur Terrorgruppe "Islamischer Staat" an, indem es auf seiner Titelseite einen türkischen Polizisten zeigt mit dem abgeschnittenen Kopf wohl eines Regierungsgegners. Ein Polizeikollege sieht das und ruft aus: "Es gibt nicht wirklich die Freiheit zum Kopfabschneiden!" Hintergrund dafür ist ein Gesetzentwurf der Regierung, der nach den jüngsten Straßenkrawallen ins Parlament eingebracht wurde und welcher der Polizei noch weiter gefasste Kompetenzen gibt, um Demonstranten zu durchsuchen und festzunehmen. "Nanu", sagt der abgeschnittene Kopf. (Markus Bernath, derStandard.at, 20.10.2014)