Der Fall von Helene Hegemann (im Bild) zeigte, dass zu Plagiaten im Feuilleton kein adäquates Urteil gefällt werden kann.

Foto: Mae Ost

Akademische Titel werden aberkannt, wenn Plagiate aufgedeckt werden. Hersteller werden verurteilt, wenn das Design von einem Original kopiert wird. Selbst in der Popmusik muss die Plattenfirma zahlen, wenn der Diebstahl zu offensichtlich wird. Warum ist es aber in der Literatur ungleich schwieriger zu beurteilen, ob ein Plagiat vorliegt oder nicht?

Plagiate sind in der Literatur nichts Neues. Von Shakespeare über Brecht bis hin zu Feridun Zaimoglu sind einschlägige Fälle bekannt. Vielen wird auch noch der Fall Helene Hegemann erinnerlich sein, deren Debütroman Axolotl Roadkill 2010 einen Skandal erzeugte, als bekannt wurde, dass die Autorin nicht nur, aber auch aus dem Blog von "Airen" und dessen im Berliner Kleinverlag Sukultur erschienenem Roman Strobo abgeschrieben hatte.

Nun geistert seit einigen Wochen ein besonders denkwürdiger Plagiatsfall durch das Feuilleton. Anfang August war in der Neuen Zürcher Zeitung zu lesen, dass der Schweizer Autor Urs Mannhart in seinem im Frühjahr beim Secession-Verlag erschienenen Roman Bergsteigen im Flachland "Reportagen verwendet und zitiert hat, ohne die Quelle angemessen zu nennen". Das war sehr vorsichtig formuliert. Namentlich handelt es sich dabei um literarische Reisereportagen des in Finnland lebenden österreichischen Schriftstellers Thomas Brunnsteiner, die zum Teil 2007 in dessen Buch Bis ins Eismeer (Verlag Wieser) und unter anderem auch im Standard erschienen sind. Mannhart kopierte nicht nur einzelne Sätze und Absätze wortgetreu oder geringfügig abgeändert aus Brunnsteiners Werken, sondern übernahm für seinen Roman zudem Motive, Ideen, ganze Geschichten.

Auch Personen aus Brunnsteiners Texten entdeckt man bei Mannhart, deren ungewöhnliche Namen sich der Schweizer nicht einmal die Mühe machte zu ändern. So berichtet Brunnsteiner in verschiedenen Reportagen, die in etwa zwischen 1999 und 2010 entstanden, mitunter vom lappländischen Psychiater Seppo Laukkanen, von einem aserbaidschanischen Chauffeur namens Kamran oder dem åländischen Kapitän Hilmer Johansson. Erteilten diese ansonsten nicht im öffentlichen Leben stehenden Menschen Brunnsteiner die ausdrückliche Erlaubnis, in seinen Reportagen mit Klarnamen genannt zu werden, und schenkten dem Autor somit ihr Vertrauen, können sie sich nun als literarisierte Figuren in Mannharts Roman entdecken.

Liest man bei Mannhart von "Professor Alexej Walentinowitsch Sokov, dem beredten Mitarbeiter des Schirschow-Instituts, der ihnen in seinem Büro mit honiggelbem Bart und vifen blauen Augen gegenübersaß", so findet man einen Professor desselben Namens bereits in Brunnsteiners Reportage Der Milizionär im Wohnzimmer, erschienen im Juni 2000 im Standard-ALBUM, wo er beschrieben wird als ein "offener Mann Mitte 30, gestutzter honiggelber Bart, vife blaue Augen".

Waren es bei Axolotl Roadkill insgesamt nicht mehr als 20 Stellen, die Hegemann aus Airens Text wörtlich oder modifiziert verwendete, so wurden bei Mannhart mittlerweile 115 Textstellen gefunden, die ohne Kenntlichmachung übernommen wurden.

Dass bei literarischen Texten im Gegensatz zu wissenschaftlichen die rechtliche Situation in Plagiatsfällen eine Grauzone sei, ist ein weitverbreiteter Irrglaube und verrät die Unkenntnis jener, die sich zu solchen Äußerungen hinreißen lassen. Entgegen einem Statement des Mannhart-Verlags, in dem dieser sich und seinen Autor unbeholfen zu verteidigen sucht, ist es zudem nicht so, dass journalistische oder andere nichtfiktionale Texte oder Teile daraus copyright- oder urherberrechtsfrei wären und einfach so von Romanautoren und -autorinnen ausgeschlachtet werden könnten. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um eine wortgleiche Übernahme ohne Quellenangabe handelt. Das Copyright-Zeichen im Impressum von Zeitschriften, Magazinen und Büchern ist da ein hilfreiches Indiz.

Mit fremden Federn schmücken

Wohl sind kreative Übernahmen aus formalästhetischen Gründen erlaubt, wie das bei zahlreichen Werken der Postmoderne der Fall ist. Auch bei vielen experimentellen Arbeitsmethoden, in denen Signifikanten decodiert und umfunktioniert werden, wohnt dem Zitat eine gewisse Notwendigkeit inne. Fritz Ostermayer nannte im Standard-ALBUM (20. 9. 2014) einige dieser Techniken: "Sampling, Remix, Mashup, Collage, Appropriation etc." Im Gegensatz zu Mannhart oder Hegemann, in deren Texten sich einem der Sinn der kopierten Stellen nicht erschließt, machen diese Autoren und Autorinnen ihr Ausgangsmaterial außerdem kenntlich, entweder durch simple Quellenangaben oder einen ausführlichen Index als Anhang. Selbst der von Ostermayer erwähnte Copyright-Kritiker Kenneth Goldsmith macht das, wenn er ein Buch wie Seven American Deaths and Disasters veröffentlicht, dessen Text ausschließlich aus der Abschrift von Radio- und TV-Berichten besteht.

Wer dies unterlässt, schmückt sich mit fremden Federn und begeht geistigen Diebstahl - Copyright hin oder her. Denn mit Büchern wird im kapitalistischen Literaturbetrieb nach wie vor viel Geld verdient, und einige Schriftsteller wollen (oder sollen?) sogar von ihrem Beruf leben können.

Bei Plagiaten handelt es sich aber nicht nur um eine rechtliche Verfehlung dem Urheber gegenüber, sondern auch die Leserinnen und Leser werden betrogen. "Auf jedem Joghurtbecher zu 19 Cent muss bis ins Kleinste aufgedruckt werden, was drin ist. Warum sollte das bei Literatur anders sein? Leser sind auch Konsumenten", äußert sich ein Amazon-Rezensent zum Bestseller Axolotl Roadkill.

In rechtlicher Hinsicht macht es keinen Unterschied, ob jemand bei einem Bauern, der sein selbstgemachtes Joghurt herzuschenken gedenkt, einbricht und dieses Produkt als sein eigenes verkauft oder ob er es einer Joghurtfabrik entwendet. Vielleicht ließe sich der Joghurt-Gedanke auch in Richtung Georges Bataille weiterverfolgen, bei dem von Aneignung und Ausscheidung die Rede ist, wobei sich im gegenwärtigen technologisch-gesellschaftlichen Setting, so wiederum der italienische Kurator Luca Cerizza, die kreative Produktion immer mehr der exkrementalen Phase nähert.

In einem Anhang zu Bergsteigen im Flachland wird Thomas Brunnsteiner, der bis zur Entdeckung des Plagiats nichts von der Existenz des Schweizer Autors wusste, ohne nähere Erläuterung neben anderen in einer Danksagung erwähnt. Man fragt sich bloß wofür. Vielleicht sollten alle anderen, denen Mannhart dankt, darunter etwa Suhrkamp-Autor Erich Rathfelder, das Buch einer genauen Überprüfung unterziehen. Der im Vorjahr verstorbene Rolf Michaelis, der in Mannharts Danksagung nicht vorkommt, kann dies nicht mehr tun. 1985 veröffentlichte Michaelis eine - wie Urs Mannhart vielleicht vermutete - längst vergessene Kritik zu einer Peter-Zadek-Inszenierung in der Zeit. Der Titel: Bergsteiger im Flachland.

Der Fall von Helene Hegemann zeigte, dass zu Plagiaten im Feuilleton kein adäquates Urteil gefällt werden kann, da hier bloß subjektive Meinungen pro oder contra wiedergegeben werden, die teilweise mit Interessenvertretungen zu tun haben, nichts aber mit der Rechtslage. Lediglich Arno Orzessek äußerte die Ansicht, dass das von Hegemann reklamierte Recht zum Kopieren "vor ordentlichen Gerichten erstritten" werden müsse - was damals ausblieb und negativ für Hegemann und ihren Verlag ausgefallen wäre. Nicht von ungefähr zahlte Ullstein eine in den Medien nicht genannte Summe als Entschädigung, erwarb nachträglich die Abdruckgenehmigung für Airens Roman, gab diesen später als Taschenbuch-Lizenzausgabe heraus und listete die plagiierten Stellen in neueren Auflagen von Axolotl Roadkill auf.

Urs Mannharts Roman könnte nun zum Präzedenzfall werden. Nach eingehender Prüfung einer Klage vonseiten Brunnsteiners hat das Schweizer Handelsgericht in einer Verfügung mit sofortiger Wirkung dem Verlag verboten, das Buch zu verkaufen, zu bewerben und zu präsentieren. Der Secession-Verlag wertet dies in seinem Statement befremdlicherweise als Versuch Brunnsteiners, aus "Mannharts Werk" Kapital zu schlagen, sozusagen nach dem Motto "Nicht der Dieb, der Bestohlene ist schuldig". Dass Mannhart das Urteil in einer ersten Reaktion als "Angriff auf die Literatur" empfindet, muss man sich nach seinem eigenem Vorgehen auf der Zunge zergehen lassen. (Thomas Antonic, DER STANDARD, 18.10.2014)