Im Garten mit Eichen und kurzem Gras döst ein zusammengerollter Malteserkater auf einem Liegestuhl, eine Amsel stibitzt ihm seine Kroketten. Marie-Hélène Machado sitzt auf der Terrasse ihres Hauses, das groß genug wäre, um einen ganzen Trupp zu beherbergen. "Wenn ich von Marie-Lys rede, bekomme ich Gänsehaut." Marie-Hélène ist eine kokette und lebhafte, junggebliebene Sechzigerin mit Augen, die wie Champagner perlen. Sie zittert fast, wenn sie Marie-Lys Bibeyran erwähnt, die als Teenager in ihrer Bäckerei in Listrac, zu deren Kunden ihre Eltern und ihr Bruder Denis zählten, eine Schnupperlehre machte. Listrac? Ein Dorf mit zweitausendfünfhundert Einwohnern, eingerahmt von sechshundert Hektar Weinbergen, mitten im Médoc, wo es von großen und weniger großen Weinen wimmelt: Saint Estèphe, Pauillac, Margaux, Moulis ... und von stolzen Schlössern alter Dynastien, die unter die Kontrolle der Rothschilds, Pinaults und Bouygues gerieten.

Marie-Lys Bibeyran gegen die Winzer.
Foto: Marie-Lys Bibeyran

"Sie ist mutig, Marie-Lys, die Winzer sind alle gegen sie, sogar die Angestellten, sie halten es mit dem Arbeitgeber. Ihr Vater wurde sogar aus dem Nachbarschloss hinausgeworfen wegen des Kampfs seiner Tochter." Als sie vor dreißig Jahren ihr großes Haus auf dem Land bauen ließen, waren Marie-Hélène und ihr Mann - ein Schreiner - außer Reichweite der Weinberge. Heute liegen diese auf der gegenüberliegenden Straßenseite. "Mir sagt niemand, wann gespritzt wird. Um 13 Uhr ist der Traktor da, man nimmt die Wäsche ab, bringt alles hinein, man schließt die Fenster: Es sei Schwefel, sagen sie ... Und wir sollen es glauben!" Die jungen Pfirsichbäume, die Marie-Hélène in der Nähe des Tors gepflanzt hatte, starben alle ab. "Ich habe ein paar Haare zur Untersuchung gegeben. Ich habe drei endokrine Störfaktoren und ein krebserregendes Molekül in meinem Körper. Und ich bin nur Anwohnerin! Marie-Lys, ich werde immer an ihrer Seite kämpfen." Beim Abschied fasst Marie-Hélène die Situation schroff zusammen: "Einen Weinbergarbeiter, der redet, können Sie nicht finden. Das Thema der von Pestiziden hervorgerufenen Krankheiten ist tabu. Hier zählt nur der Wein."

Die Inhaltsstoffe von Rotwein.

Am Anfang war ein kleiner Artikel, versteckt auf Seite 16 des lokalen Tagblatts, gelesen im Februar 2013 in Bordeaux vor einem Teller Calamares mit Chorizo. Dort stand, dass Frankreich als Europameister 62.700 Tonnen Pestizide konsumierte mit einer Zunahme von 2,7 Prozent; der Weinbau allein verschlang 20 Prozent dieser Cocktails. Es war auch von einer Umfrage zwecks einer "Analyse landwirtschaftlicher Pestizide in den Haaren" (abgekürzt: Apache) die Rede. Als Basis dienten die Haarproben von 25 Bewohnern des Médoc. Es wurde da eine gewisse Marie-Lys Bibeyran beschrieben, 35 Jahre alt, Weinbergarbeiterin, die mit allen Mitteln versuchte, bei der Krankenkasse und vor Gericht eine Anerkennung der mutmaßlichen Berufskrankheit ihres Bruders Denis zu erreichen. Denis, ein Weinbergarbeiter, war am 12. Oktober 2009 mit 47 Jahren an einem Gallengangkarzinom gestorben. Dieser Krebs wurde nach Meinung seiner Schwester durch Pestizide verursacht, mit denen er seit seinem 14.  Altersjahr umging. Pestizide ist ein Sammelbegriff für alle im Rebbau eingesetzten Fungizide, Insektizide und Herbizide. Oh, Marie-Lys kämpfte nicht für eine Entschädigung, sondern einzig und allein, um Alarm zu schlagen – wie die Asbestopfer in der Industrie oder die Grubenarbeiter mit ihrer Silikose.

Marie-Lys wohnt hinter der Kirche von Listrac in einer bescheidenen Wohnung, die man über eine ziemlich steile Holztreppe erreicht. Drei Zimmer, eines davon ist das Wohnzimmer mit Klavier, Sofa und Fernseher, vor dem Solenn, eine hübsche und blonde neunjährige Fee, gerade Trickfilme genießt. Patrick aus Belgien, Partner von Marie-Lys, Weinbergarbeiter auf einem großen Schlossgut, schläft. Er hat wie jeden Tag von 6 bis 13 Uhr in den Rebbergen gearbeitet.

"Man erwartet, dass Sie schweigen."

Auf der anderen Seite des Tisches verströmt Marie-Lys, eine solide Dreißigerin, eine solche Energie, eine solche Aufrichtigkeit, dass man meinen könnte, sie sei beseelt. Sie hat die Augen einer Mutter und einen feurigen Blick. "Nein, kein einziger Weinbergarbeiter wird Ihnen etwas sagen. Ich kann Ihnen den Namen meines Arbeitgebers nicht nennen, weil ich ihn achte und weil er mich machen lässt. Nie irgendwelche Vorhaltungen. Ich kann Ihnen überhaupt fast keinen Namen nennen, nicht einmal den meines Partners. Wissen Sie, hier redet man nicht über sein eigenes Unglück. Hier sind Sie nicht nur krank, man erwartet von Ihnen auch, dass Sie schweigen."

Marie-Lys Bibeyran veröffentlicht fast täglich im Internet einen Bericht über ihre Auseinandersetzungen. Ich lese ihn seit Monaten, aufmerksam und bestürzt, und gab ihm einen Namen: Marie-Lys' Tagebuch. Sie hat wenige Freunde in der Gegend. Ein Auszug: "Donnerstag, 25., und heute, Montag, 29.  April, haben zwei Angestellte der Schlösser La Bécade und Fourcas-Loubaney eine Parzelle in meiner Nähe gespritzt: das erste Mal mit einem Traktor ohne Führerhaus und ohne die geringste Schutzausrüstung, das zweite Mal mit einem antiken Traktor mit einer Art Führerhaus aus vier Holzstangen und einem Blech. Der Fahrer hatte einen Overall und eine Maske, aber ohne geschlossenes Führerhaus bekam er mit dem Wind genug in die Nase! Ich habe ein bisschen mit ihnen geredet. Diese Methoden sind sehr verbreitet, ein Besuch des Arbeitsinspektors hatte keine Folgen. Boykottieren Sie Weine, die unter solch unmenschlichen Bedingungen produziert werden! Ich habe ihnen versprochen, mich um sie zu kümmern. Anfangen mit einem richtigen, eingeschriebenen Brief an ihren kriminellen Arbeitgeber, und dann ..."

Weingut im Haut-Médoc.
Foto: wikipedia/creative commons (CC-Lizenz)

Dann kommen die Repressalien. Der Arbeitgeber des einen ruft den Arbeitgeber des anderen an. Dieser ruft die Genossenschaftskellerei an, die den Arbeitgeber anruft und fragt, ob man die Querulantin nicht entlassen könnte. Entlassungsdrohungen, Einschüchterungen. Nach einer kurzen Sendung über Listrac-Médoc im Fernsehen als Folge der Enthüllungen der Untersuchung "Apache" kam die kleine Solenn von der Schule nach Hause und rief ihrer Mutter zu: "Wegen dir werde ich nie wieder Freundinnen haben!"

Marie-Lys schenkt mir ein Buch, Der stumme Frühling von Rachel Carson (1907–1964), laut Time "eine der einflussreichsten Frauen des 20. Jahrhunderts". Jede Seite dieses Bestsellers des Schreckens, der schonungslos die Auswirkungen der Pestizide auf alles Lebendige untersucht, ist voller mit Bleistift geschriebener Randnotizen. Das Werk hatte in den USA das Verbot von DDT bewirkt. Nach dieser Lektüre setzte ich den Doc ein wenig unter Druck. Ich nenne ihn hier "Doc". Er übt seinen Beruf auf der anderen Seite der lehmigen Mündung der Gironde aus. Als ich ihn anrief und ihm mein Vorhaben erklärte, fragte er mich, wo ich sei. Ich antwortete: "Vor Ihrem Haus." Ich hatte mein Auto vor einem blumengeschmückten Landhaus geparkt. Ich hatte mich vorab über die Zeiten seiner Sprechstunden informiert. Er war frei, aber er bat mich, zwei Tage später vorbeizukommen.

In seiner Praxis warnt er mich gleich: "Wer hat Ihnen meinen Namen gegeben? Ich will nicht genannt werden, ich habe nichts zu sagen. Und ich habe Ihre Identität überprüft." Ich schließe meinen Notizblock. Es ist unglaublich, was ein Doktor, der nichts zu sagen hat, erzählen kann. Gestern hatte er einen Weinbergarbeiter in der Sprechstunde, der über Kopfschmerzen, Übelkeit und Nasenbluten klagte. Er hatte gespritzt. Der Hausarzt fragte: "Mit welchem Produkt?" – "Keine Ahnung. Es hatte einen Totenkopf auf dem Kanister, das ist alles."

Der wortkarge Doc begann seine Karriere in der Pulverfabrik von Saint-Médard-en-Jalles bei Mérignac, heute Groupe SNPE, spezialisiert auf die Herstellung von Sprengstoff. Damals wurde dort Trinitrotoluol (TNT) hergestellt: "Am Wochenende litten die Techniker stets unter Krämpfen im Brustkorb, Angina Pectoris, die während der Arbeitswoche verschwanden. Wir haben lange gesucht. Klar, sie vergifteten sich fünf Tage lang, und am Sonntag hatten sie Entzugserscheinungen. Trinitrin wirkt gefäßerweiternd, ein Bestandteil des Sprengstoffs."

"Sie füllten ihre Lungen, ohne aufzumucken."

Der Doc entspannt sich. Er hat noch ein anderes Geschichtchen. Dieses spielt sich am 24.  Juli 2010 während einer Etappe der Tour de France ab – zweiundfünfzig Kilometer "individueller Lauf gegen die Zeit" zwischen Bordeaux und Pauillac, im schönen Dekor der wie mit einer Friseurschere gestutzten Rebberge. Wie immer strömen die Fans der "grande boucle" schon einige Tage vor dem Ereignis mit ihren Wohnmobilen herbei, um die besten Plätze zu ergattern. "Es war unglaublich, Hunderte von Familien saßen am Tisch, schlemmend, einen Pastis in der Hand, und gleich hinter ihnen die Traktoren, die ganze Wolken spritzten. Sie alle füllten ihre Lungen, ohne aufzumucken! Wenn ich das so sagen darf." – "Ich habe eine einfache Frage, Doc. Sie haben dreißig Jahre Erfahrung: Töten Pestizide die Arbeiter, die damit hantieren, ja oder nein?" Er zieht ein schiefes Gesicht und verwirft die Arme. Er sagt, im Verzeichnis der Berufskrankheiten seien jene des landwirtschaftlichen Sektors auf dem Vormarsch. Seit der achtundfünfzigsten Revision im Mai 2012 wird eingeräumt, dass der Kontakt mit Pestiziden Parkinson auslösen kann. "Ja oder nein, Doc?" – "Hören Sie, wir sind hier in der Nähe des Kernkraftwerks von Blaye, das während des großen Unwetters 1999 teilweise überschwemmt wurde. Stellen wir uns vor, es hätte ein Leck gegeben und es hätte sich eine radioaktive Wolke gebildet. Wäre man da erstaunt über eine Zunahme von Schilddrüsenkrebs bei den Anwohnern?" Der Doc schickt seine Nachricht durch die Blume. Aber er hat geantwortet.

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Weinbau und Pestizide.
Fotos: dpa/Heribert Corn/dpa

Marie-Lys’ Tagebuch: "Ich arbeite auf zwanzig Hektaren, die über die Gemeinde von Listrac verstreut sind; wir sind also inmitten von Parzellen, die Dutzenden von verschiedenen Besitzern gehören. An einem Tag spritzen sie die breiten Rebberge, am anderen die schmalen. Es kommt vor, dass wir mehrere Male am Tag von einer Parzelle in eine andere gehen müssen, weil wir uns einem Traktor gegenüber finden, der spritzt. Können Sie sich vorstellen, diese Mischung einzuatmen, ohne aufzumucken, diese auferlegte Gnadenfrist für Ihre Gesundheit zu ertragen, und dies für 1.115 Euro pro Monat? Können Sie sich die Schuldgefühle vorstellen, die auf Sie niederprasseln, wenn Sie abends heimkommen und daran denken, dass alle Moleküle auf Ihren Kleidern, in Ihren Haaren und auf Ihrer Haut auch Ihre Kinder erreichen?"

Als ihr großer Bruder Denis an Allerheiligen 2008 erkrankte, erkannte Marie-Lys, Enkelin und Tochter von Weinbergarbeitern, dass ihre bisher unterdrückten Intuitionen ganz real waren. Sie, die normalerweise klar und laut spricht, ballt ihre Fäuste auf dem Wohnzimmertisch und flüstert fast: "Ich war mir der Gefahr bewusst, ich war es, die den Zusammenhang zwischen Krankheit und Pestiziden herstellte."

Denis Bibeyran hatte den Weinbau im Blut.

Denis "bombardierte" die Rebberge seit mindestens 1987. Wie in allen Weinbaugegenden wird auch im Bordelais – 125.000 Hektar, 10.000 Güter, 18.000 Angestellte – das Territorium des Nektars von Anfang April bis drei Wochen vor der Weinlese, Ende September, besprüht. Und das alle zehn bis vierzehn Tage.

Die großen Güter wie das Château Clarke von Nadine de Rothschild haben homogene Territorien und können ihren Angestellten nach dem "Bombardement" für drei bis vier Tage den Zutritt zu den Weinbergen verbieten, weil es offiziell gefährlich ist, sie vorher zu betreten. Aber die anderen? Alle anderen? Denis Bibeyran hatte den Weinbau im Blut; neben seiner Arbeit als Angestellter eines Winzers besaß er wie viele andere auch einige Quadratmeter, die er mit einer bedingungslosen Liebe pflegte. Um seinen eigenen Wein zu trinken, seinen eigenen Tischwein, mit der Magie seiner Hände produziert. Denis machte keine Ferien, er wagte es nicht, sich von seinen Rebstöcken zu entfernen. Und er bombardierte seine Reben, wie er es immer gemacht hatte, wie es vor ihm sein Vater, sein Großvater und alle anderen in der Gegend gemacht hatten. Denn hier ist man nicht integriert, wenn man nicht aus einer Winzerfamilie stammt. Und man redet nicht mit Fremden. Außer Marie-Lys, die sich in den Kampf stürzte, um ihren Kummer zu bezwingen.

Ein Traktor beim "Bombardement".
Foto: Marie-Lys Bibeyran

Um der Omertà des Milieus Widerstand zu leisten, brauchte es einen Ort. Dieser wurde mit der Bäckerei von Marie-Hélène Machado in Listrac gefunden. Und ein Werkzeug, das Marie-Lys selbst konzipierte: einen detaillierten Fragebogen zur Gesundheit, der sich an die Weinbergarbeiter und die Nachbarn der Rebberge richtete. Ein anonymer Fragebogen natürlich. "Ungefähr zwanzig Personen unterstützen mich, vielleicht ein paar mehr. Schließlich habe ich im Médoc über die Bäckerei und die sozialen Netzwerke immerhin achtundvierzig detaillierte Antworten bekommen. Können Sie mir bei der Auswertung helfen?" Ich verspreche es.

"Und dann habe ich noch meinen Spitzel." – "Wie bitte?" – "Ich bin ihm nie begegnet. Es ist ein Mann, Mitglied der lokalen Winzerinstitutionen. Er spielt mir Informationen über das Auftauchen von Schädlingen in den Weinbergen zu, über die geplanten Gegenmaßnahmen und deren Gefahren. Meine Aufgabe ist es, diese Informationen zu verbreiten, um die Arbeiter und ihre Kinder sowie die Nachbarn zu warnen. Er unterstützt mich, aber er würde unter keinen Umständen mit einem Journalisten reden." – "Können Sie ihn trotzdem fragen, ob er mit einem Treffen einverstanden wäre, in Bordeaux oder anderswo?" Marie-Lys verspricht, meine Frage zu übermitteln.

Normalerweise sind wissenschaftliche Artikel, höflich ausgedrückt, stinklangweilig. Andere treiben einem die Tränen in die Augen. In "VertigO", einer elektronischen Zeitschrift aus Quebec, entdeckte ich den Bericht von Christian Nicourt, Ergonom und Historiker am Institut national de recherche agronomique (Inra). 2009 publizierte er gemeinsam mit seinem Team einen Auszug aus seiner Untersuchung "Menschliche Kosten: Wie die französischen Winzer und die Techniker in den französischen Rebbergen auf das Risiko reagieren". Ein beeindruckendes Korpus: siebzig Gespräche mit Winzern und Rebbau-Beratern im Languedoc-
Roussillon – mehr als zwei Jahre Arbeit.

"Je mehr sie spritzten, desto angesehener waren sie."

Ein Auszug: "Früher mischte man die Produkte, ich schwöre es, sogar ich. Spritzer von allen Seiten trafen dich, aber den Leuten war es scheißegal. Mehr sogar: Je mehr du davon abbekamst, desto höher wurdest du geachtet. Aber je mehr Sie spritzten, je öfter Sie mit Ihrem blauen Traktor, der aussah wie ein Schlumpf, daherkamen, desto angesehener waren Sie in der Welt der Weinbauern. Und das ist tief verankert. Das ist etwas, das immer noch da ist." (40 Jahre alt, zwanzig Hektar, Pyrénées-Orientales)

Weinstöcke in Listrac.
Foto: Marie-Lys Bibeyran

Ein anderer: "Das Massensterben, ich hab's gesehen. Manchmal reden wir darüber, man sagt mir: 'Ja, der ist an Krebs gestorben, und der ist auch an Krebs gestorben.' Letzthin war ich mit einem Freund zusammen. Von rund zwanzig Häusern gab es fast in jedem einen Fall von Krebs, alles Winzer. Man sagt sich: 'Ja, aber ...'" (40 Jahre alt, zwanzig Hektar, Pyrénées-Orientales)

Stämmig, graumeliertes Haar, gallischer Schnurrbart: Christian Nicourt arbeitet in den nüchternen Büros der Inra in Ivry-sur-Seine, wenn er nicht gerade durch Feld und Wiesen stapft. Ein wenig müde, aber entspannt kommt dieser Doppelgänger von José Bové auf seinen Bericht zurück: "Bei den Arbeitern gibt es Stolz und Trotz. Ich erinnere mich an einen Bergbauarbeiter, der sehr stolz auf seine fortgeschrittene Staublunge war. Die Weinbauarbeiter reden nicht über die Krankheit, sie taucht im Lauf des Gesprächs auf, irgendwo am Rand. Man kann nicht direkt darüber sprechen, das führt ihnen den eigenen Tod vor Augen. Die Negation ist für sie eine Art Widerstand."

Die Vergeltung kam mit der Geschwindigkeit einer Gewehrkugel.

Nicourts Arbeit wurde in den Schubladen gelagert wie Heu in Plastikballen. Das Landwirtschaftsministerium las seinen Bericht nicht. Niemand, außer einigen Kollegen, las ihn. Er hat kein Gewicht, es zählt nur, was in wissenschaftlichen Zeitschriften erscheint. Doch als "VertigO" den erwähnten Auszug publizierte, kam die Vergeltung mit der Geschwindigkeit einer Gewehrkugel. "Am Tag darauf publizierte die Union des industries de la protection des plantes (UIPP) auf der Internetseite des Artikels einen diffamierenden Text über unsere Untersuchung. Sie haben die Mittel, um alles zu erfahren, was vor sich geht. Sie gehen sehr profimäßig vor, sie verfügen über Werkzeuge der Überwachung; in unseren Seminaren sitzt immer ein Beobachter der UIPP und der Saatgutproduzenten. Sie finanzieren sogar Forschungen gewisser Wissenschafter der Inra, das ist sehr praktisch ...

Marie-Lys' Blick auf die spritzenden Traktoren.
Foto: Marie-Lys Bibeyran

Die Union des industries de la protection des plantes (UIPP) mit ihrer Filiale in Frankreich ist eine mächtige professionelle Organisation von zwanzig multinationalen Unternehmen – alle "solidarisch und wachsam", wie sie selbst trompeten. Man findet unter ihnen die berühmten Firmen Monsanto, Bayer, Crompton und Dow Chemical, alle spezialisiert in Herstellung und Vertrieb von Pestiziden, Pardon: "phytopharmazeutischen" Produkten. Ihr Jahresumsatz? Zwischen 1,8 und zwei Milliarden Euro, je nach Klima. Arrogante UIPP. 2012 wurde der Generalsekretär der UIPP, Jean-Charles Bocquet, in der Kommission "Pestizide und Gesundheit" des Senats von Nicole Bonnefoy befragt: "Wie erklären Sie die Krankheiten?" – "Welche Krankheiten? Es gibt nur ein Verzeichnis der von Natriumarsenit hervorgerufenen Erkrankungen – dieses Produkt ist seit 2001 nicht mehr auf dem Markt – und einige Vermutungen über Parkinson." Prozessfreudige UIPP. Im August 2013 focht die deutsche Bayer am Gerichtshof der Europäischen Union den Entscheid der EU an, den Gebrauch ihrer Insektizide zu suspendieren, die im Verdacht stehen, für Bienen gefährlich zu sein. Einflussreiche UIPP. Auf ihrer Internetseite publiziert Monsanto – Erfinderin des "Agent Orange", das die vietnamesische Flora entlaubte und die Kriegsveteranen schwächte – unter der Rubrik "Fragen und Antworten": "Ist es gefährlich, neben einer mit Pestiziden behandelten Zone zu leben oder sich aufzuhalten? – Überhaupt nicht."

Der redegewandte Christian Nicourt erzählt Dinge, die ich nicht erwähnen kann, ohne dass er beunruhigt wäre – "das ist off, einverstanden?" und schneidet ein Thema an, das mich aufschreckt. "Das Problem sind die endokrinen Störfaktoren. Wenn ein Weinbergarbeiter und seine ebenfalls in den Rebbergen arbeitende Frau, wenn also beide unter Einfluss von Pestiziden ein Kind bekommen, wird dieses auch betroffen sein. Das wird von Generation zu Generation weitergegeben, und das gibt dann Mikroschwänzchen." – "Was?" – "Mikropenisse. Genitale Missbildungen. Die Mädchen bekommen die Periode früher, so mit acht Jahren." – "Das steht aber nicht in Ihrem Bericht!" – "Das kann man sagen, aber nicht schreiben."

"Eigentlich bewundere ich Sie für das, was Sie machen."

Marie-Lys’ Tagebuch: "26. September. Fotos von den Weinbergen in Listrac. Es sind nur noch acht Tage bis zur Weinlese, und heute wurde stark gespritzt! Mindestens drei Traktoren noch heute Nachmittag. Ein großes Schlossgut von Listrac, das am Freitag mit der Weinlese beginnt, spritzte noch am Dienstag! Schöne Aussicht auf einen guten Saft von Tebuconazol, Imidacloprid ..." Wir befinden uns wieder einmal bei ihr. Es ist Nacht. Die kleine Solenn hat einen Kürbis für Halloween misshandelt. Marie-Lys scheint ein wenig müde zu sein. Jeden Tag gibt man ihr im Dorf zu verstehen, dass sie "Listrac und seine Weingüter zerstört", dass sie "den Beruf ruiniert": "Muss man denn jeden Tag wegen der gleichen Dinge herumschreien!"

Und dann wurde versucht, sie über ihren Mann zu treffen. Er arbeitet auf einem großen Schlossgut nördlich von Pauillac, sein Name tauchte im Zusammenhang mit der "Apache"-Untersuchung in einer nationalen Tageszeitung auf. Nach dieser Veröffentlichung war Patrick täglich Belästigungen, Drohungen und Schikanen seines Chefs ausgesetzt, des Vorarbeiters, der die Pflege der Rebberge und die "Bombardierungen" organisierte. Marie-Lys ertrug das nicht. Sie stellte den kleinen Chef in der Hauptstraße, als er aus der Bäckerei kam. Nach einigen Beleidigungen und einer Moralpredigt gab der Bursche schließlich zu: "Wissen Sie, eigentlich bewundere ich Sie für das, was Sie machen." Sie pfeift auf die Bewunderung. Marie-Lys zahlt den Preis für ihre Guerilla jeden Tag, den Gott ihren Rebbergen schenkt. "Wenn ich mit meinem Kollegen auf einer Parzelle arbeite, reden die anderen, die auf der Parzelle nebenan arbeiten, nicht mit uns. Ich bin verfemt. Das schmerzt mich, die anderen sind auch Arbeiter wie ich."

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In der Landwirtschaft ist der Einsatz von Pestiziden üblich.
Fotos: dpa

Sie hatte versucht, ihrem von ihren Winzereltern – heute 81 und 75 Jahre alt – geerbten Schicksal zu entrinnen, dem Leben ihrer Brüder, Weinbauarbeiter, und ihrer Vorfahren, die seit Ewigkeiten auf diesem riesigen Schachbrett von Rebbergen kleben, aus dem auszubrechen man so wenig Chancen hat wie aus einem Labyrinth ohne Ausgang. Es gibt keine andere Arbeit im Médoc. Marie-Lys hat sogar einen Magistertitel in Recht in Bordeaux erworben, aber nein, unwiderruflich nein, administrative Wettläufe waren nicht ihre Sache – keine Beamtenseele. Sie redet jetzt leise. "Am Anfang war alles möglich, alles außer dem Weinbau, alles außer der Liebe zu ihm. Dann bin ich darauf zurückgekommen, es war keine Wahl. Vielleicht Kontinuität. Ah, mein Spitzel will Sie nicht treffen. Es ist zu riskant für ihn."

Riskant, weil Marie-Lys und dem "Maulwurf" zwei Giganten gegenüberstehen: zuerst die UIPP, die ihre Finger in allen Institutionen der Agrarwelt hat, und dann der Conseil interprofessionnel du vin de Bordeaux (CIVB). Dieser Verband vertritt zehntausend Weingüter, eine durchschnittliche Produktion von fünf Millionen Hektolitern, was etwas mehr als siebenhundert Millionen Flaschen mit einem durchschnittlichen Gesamtwert von rund vier Milliarden Euro ausmacht. Die Hälfte davon ist für den Export bestimmt. Was sind Marie-Lys und ihr vergifteter Bruder wert? Sie hebt den Kopf: "Ah, übrigens: Eine Person hat mit jemandem aus meinem näheren Bekanntenkreis geredet. Sie sagte: 'Sie hat recht, Marie-Lys, aber sie soll aufpassen. Ein Gewehrschuss geht schnell los.'"

"Man vergisst, dass die Pestizide zum Töten da sind."

"Christine", wie auch den Doc benenne ich sie um, "Christine" will nicht gern zitiert werden, es sei denn, sie könne meine Abschrift korrigieren, aber auch so. Als überdiplomierte Forscherin kennt Christine die Mechanismen des Systems gut. In ihrem grauen Büro hält sie mir eine Vorlesung: Man vergisst, erinnert sie mich, dass die Pestizide zum Töten da sind. Es gibt Dutzende von Produkten, die wiederum aus Dutzenden von Molekülen bestehen: Wie kann man da Beweise, Kausalzusammenhänge finden, wenn die Pathologien zwanzig Jahre später auftauchen? Die epidemiologischen Ermittlungen stocken, sie brauchen finanzielle Mittel, die weder die Industrie noch die Ministerien für Landwirtschaft, für Gesundheitswesen oder für Forschung bereitstellen wollen. Schlussfolgerung? In Phrasendrescherei, bitte: "Die Zonen der Ungewissheit, die die aktuellen Forschungsarbeiten hinterlassen, können noch jahrzehntelang bestehen – so wie wahrscheinlich auch die Probleme, die mit der Hypothese der endokrinen Störfaktoren aufgedeckt wurden. Aber sie können auch schwerwiegende Beeinträchtigungen verdecken, die dadurch lange Zeit unsichtbar bleiben."

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Weingut im Haut-Médoc.
Foto: Reuters/Fabien Cottereau

In ihrem Institut hat Christine ein neues Studienprogramm von 2013 bis 2016 durchgesetzt. Sie war sehr zufrieden, bis gestern, als ein Telefonanruf ihr Projekt "Pestizide und Landarbeiter" amputierte. Trotz einer Grundsatzvereinbarung entschied die Mutualité sociale agricole (MSA) – Organismus zum sozialen Schutz der Landarbeiter – brutal, die Dossiers der Kranken nicht mehr weiterzuleiten. Die MSA, Besitzerin des Wissens, hält dieses unter Verschluss. "Aus welchem Grund?" – "Was denken Sie wohl? ... Aber mir wurde eine Schweigepflicht auferlegt, ich kann erst 2016 über das Verhalten der MSA reden. Ich habe Ihnen nichts gesagt, okay?" – Es tut mir leid, Christine.

Etwas weniger ängstlich, aber ebenso vorsichtig mühen sich andere Forscher Jahr für Jahr ab, um auf dem Gebiet der Gesundheit am Arbeitsplatz den Deckel zu heben. So Dorothée Provost und Isabelle Baldi, Ärztinnen für Epidemiologie, die in ihren Studien vermuten, dass "das Weingebiet von Bordeaux weltweit zu den Regionen mit der höchsten Rate von Gehirntumoren zählt".

"Das sind sozial akzeptierte Kollateralschäden."

So auch Alain Garrigou, Lehrkraft und Forscher im Departement Hygiene, Sicherheit und Umwelt am IUT in Bordeaux 1. Im Jahr 2012 vom Senat angehört, untersucht er seit zehn Jahren die Schutzkleidung der Weinbergarbeiter, Handschuhe, Masken, verdichtete Kabinen der Spritztraktoren und Sprühwerkzeug. Seine Schlussfolgerungen sind wie ein Peitschenhieb, ein Uppercut nach dem anderen: "Es gibt keinen Overall, der gegen alles schützt. Die industriellen Produkte können nur die großen Partikel filtern, kein Aerosol. Die Pestizide dringen in zehn Minuten in den Overall ein und häufen sich im Inneren desselben an. Die Konzeption des Materials für die Führerkabine auf dem Traktor ist absurd. Die Handschuhe, die draußen mit den Produktmischungen in Kontakt kommen, verseuchen hinterher den gesamten Innenraum des Traktors. Das Material des Overalls wurde nie auf Pflanzenschutzmittel getestet." Alain Garrigou beendet sein Expertenhearing mit zwei Warnungen. Erstens: Wegen der Fluktuation in den Ministerien erinnern sich immer weniger Leute an die Dossiers. Zweitens: Man muss mit Firmen arbeiten, die geschwind wie die "Hasen" sind. Sie haben Jahre Vorsprung auf die Akademiker und haben noch nicht alle Informationen preisgegeben.

Ein Traktor im Médoc.
Foto: Marie-Lys Bibeyran

Bevor ich sie verließ, gab mir die ängstliche Christine einen Lektüretipp: "Les corps vils" von Grégoire Chamayou. Dort liest man Diderots Rechtfertigung der Vivisektion von zum Tod Verurteilten, Louis Pasteur verlangt vom Kaiser von Brasilien Körper von Gefangenen, um seine Heilmittel zu testen. Heute müsste man zugeben, dass in Westafrika, das den Abfall der Welt lagert und auseinandernimmt, dass in der Petrochemie, im Weinbau und anderswo Körper eingesetzt werden, die weniger wert sind als andere. "Das sind sozial akzeptierte Kollateralschäden", flüstert Christine. "Ah, eine Zahl: Im Jänner 2013 gab es mindestens hundert Prozesse gegen die MSA."

Marie-Lys' Tagebuch: "Der heutige Tag ist meinem Bruder Denis gewidmet. Weil allzu viele Leute ihn nicht mehr besuchten, als er krank war. Angeblich aus Angst vor dem Krankenhaus, aus Angst, ihn so zu sehen. Ich persönlich habe nie einen Kranken gesehen. Ich sah nur meinen Bruder. Die Unaufrichtigkeit von Denis' Arbeitgebern macht mich rasend vor Wut. Sie sagten dem Arzt für Arbeitsmedizin im Regionalkomitee für Anerkennung der Berufskrankheiten, dass Denis seit 1999 eine klimatisierte Führerkabine mit Filter hatte. Sie hatten es nur unterlassen zu sagen, dass sie ihm nicht zur Verfügung stand, weil der Sohn des Besitzers sie benutzte! Der Zeitpunkt des Kaufs fiel übrigens mit der Ankunft des Sohnes auf dem Gut zusammen. Mein Bruder musste mit einem überhaupt nicht dazu vorgesehenen Traktor spritzen, ohne Kohlefilter, ohne Klimaanlage. Stellen Sie sich die Hitze in der Kabine vor! Meine Verachtung für sie wird nicht abnehmen. Enttäuscht, aber nicht besiegt, niemals!"

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Reihe für Reihe werden die Rebstöcke gespritzt.
Reuters/Nacho Doce

An diesem Novemberabend, als der Regen ungeduldig an die Fenster klopft, hält Marie-Lys ihren Kopf in den Händen, weit entfernt von ihrem Computer und ihren gestapelten Dossiers. Sie müht sich ab, um 2014 vom Conseil général eine Analyse der Luftqualität während des Versprühens der Pestizide zu erhalten. Das Gefecht ist in vollem Gang. Ich sage ihr, dass ich die Auswertung ihrer anonymen Fragebogen über die Gesundheit beendet hätte – eine Kurzumfrage nur im Médoc bei den Land- und Saisonarbeitern sowie den Anwohnern der Weinberge. "Und was kommt heraus?" – "Nicht stichhaltiger als die zaghaften epidemiologischen Resultate der Wissenschafter, aber trotzdem spektakulär: Von 42 Personen zwischen 18 und 73 Jahren leiden 61 Prozent unter Allergien, Ekzemen, Kopfschmerzen, Atemproblemen, Konzentrationsschwierigkeiten, Augenleiden, Erbrechen, und 16 Prozent haben Krebs oder Parkinson." – "So schlimm. Das ist allerhand!"

So schlimm, dass die MSA die medizinischen Dossiers den Forschern übergeben müsste. Dann würde man erfahren, ob die Pestizide trotz schwerwiegenden Vermutungen ihre Benutzer vergiften oder nicht. Während sie auf die Schlussfolgerungen in einigen "Jahrzehnten" – wie Christine sagte – wartet, pflegt Marie-Lys ihre Geduld, als hätte sie es mit einem rekonvaleszenten Bonsai zu tun.

Kein Unschuldsengel, sondern ein alter Fuchs.

Das Gericht für soziale Sicherheit (Tass), das darüber entscheiden sollte, ob es sich bei ihrem Bruder Denis um eine Berufskrankheit handelte, verschob die Audienz vom 8.  Juni 2013 auf den 9.  Oktober und dann auf den 8.  November. An jenem Tag war Marie-Lys' Anwalt, François Lafforgue, "großartig", wie sie sagte. Er ist kein Unschuldsengel, sondern ein alter Fuchs: Seine Praxis hatte sich mit den Asbestopfern einen soliden Ruf erworben; dreitausend Tote pro Jahr, hunderttausend bis 2025. "Ich habe eine indiskrete Frage, Marie-Lys." – "Nur los ..." – "Hatte die kleine Solenn spezifische Gesundheitsprobleme?" – "Zwei Urininfektionen, als sie zehn Monate alt war, Nierenbeckenentzündung. Dann haben sie eine genitale Missbildung ihrer Harnröhre entdeckt ... Ich weiß, woran Sie denken. Ich habe bis zum vierten Monat der Schwangerschaft in den Rebbergen gearbeitet. Endokrine Störfaktoren." Ich habe noch eine wichtige Person zu sehen.

In Fontenay-sous-Bois, am Hang des Hügelkamms, befinden sich im Garten des Bürgerhauses drei wuchtige Gebäude aus dem 19.  Jahrhundert, in denen eine Franziskanermission und mehrere hundert Chilenen, politische Flüchtlinge nach Pinochets Staatsstreich 1973, untergebracht waren. Das war auch der Grund, weshalb die Neonazigruppe Hermann Göring die Mission 1977 in Brand steckte. Im Landsitz, der am weitesten vom Gitter entfernt ist, auf dem Dachboden, wo es ein bisschen hineinregnet, befindet sich der Sitz des Vereins Henri Pézerat, benannt nach dem Toxikologen (1928–2009), der mit seinem Alarmruf zum Asbestverbot von 1997 beigetragen hatte.

"Heimlich, still und leise vergifte ich dich."

In diesem Lokal belagern einige tausend Dossiers von "Industriekranken" Annie Thébaud-Mony, die Henri Pézerats Partnerin war. Eine schöne und große Dame von 68 Jahren mit grauem, sehr kurz geschnittenem Haar, ehrenamtliche Forschungsleiterin am Institut national de la santé et de la recherche médicale (Inserm). Die Spezialistin für öffentliche Gesundheit lehnte im Juli 2012 den Orden der Ehrenlegion ab, den ihr die Ministerin für Gleichheit der Territorien und Wohnungen verleihen wollte. Sie, die über den Tod der Arbeiter forschte, fand das anstößig, sie, die die Straffreiheit für industrielle Verbrechen denunzierte.

Vor einigen Jahren leitete Annie die Doktorarbeit eines jungen Forschers, Frédéric Decosse (Iris und EHESS), über das Risiko der Pestizide für Landarbeiter und Wanderarbeiter. Die Studie trug den Titel "Heimlich, still und leise vergifte ich dich". Als ich ihr von Marie-Lys' misslichem Abenteuer erzähle, verwirft sie die Arme: "Es ist wahnsinnig. Man ist nicht nur mit einer extremen Böswilligkeit der Experten und Ärzte konfrontiert, die Industriellen und Arbeitgeber terrorisieren auch noch die Mitglieder der MSA und der Krankenkassen, um eine Anerkennung der Berufskrankheiten zu hintertreiben."

Es gibt noch Schlimmeres. 2004 atmete der Getreideanbauer Paul François aus der Charente zufällig Monochlorbenzol ein, einen Bestandteil des Herbizids Lasso von Monsanto: Amnesie, Atemprobleme, Ohnmacht, Nachwirkungen. Lafforgue, der Anwalt von Marie-Lys, erreichte im Februar 2012 eine Verurteilung von Monsanto wegen "fehlender Information über die Zusammensetzung des Produkts". Monsanto legte Berufung ein. Annie ist immer noch entrüstet: "In dieser Affäre verweigerten zwei toxikologische Informationszentren, das Produkt zu analysieren, das Paul François vergiftet hatte. Die Frage ist: Welche Beziehungen bestehen zwischen Monsanto und den toxikologischen Informationszentren? Das ist eine Situation von Beistandsverweigerung für eine durch die Strukturen ihres Berufes gefährdete Person!"

Heute treffe ich Marie-Lys in ihrer kleinen Wohnung wieder. Wir ziehen Bilanz über die zwölf gemeinsamen Monate, die wir nah oder fern voneinander verbracht haben. Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Senatoren, nachdem sie sich informiert hatten, die extrem große Gefahr der Pestizide für die Landbevölkerung bestätigten und empfahlen, sie innerhalb von fünf Jahren in den Gebietskörperschaften zu verbieten. Wir nehmen auch die Expertise des Inserm vom Juni 2013 zur Kenntnis, die in einem Rapport von neunhundert Seiten "die schädlichen Konsequenzen der professionellen Kontakte mit Pestiziden für die Gesundheit" anerkannte und eine ganze Reihe damit verbundener Krebskrankheiten aufzählte. Im Juli lachten wir verkrampft: Die Ministerin für Gesundheitswesen verkündete ihre Absicht, ein Rauchverbot an Stränden und vor Schulen zu erlassen, während wir gemeinsam über die kommenden Katastrophen für die Gesundheit nachdachten.

"Ich berühre ein sehr intimes Geheimnis."

Marie-Lys will demnächst im sozialen Netzwerk mit ihren einundsiebzig Freunden eine Petition Antipestizid starten. Es gibt noch ein weiteres Projekt für eine Petition mit dem Verein Phyto-Victimes (Phyto-Opfer): für eine Sicherheitsdistanz zwischen den sprühenden Traktoren und den Landarbeitern. Sie hat auch eine etwas makabere Umfrage begonnen, die, wie sie sagt, Jahre dauern wird: Anhand der Todesregister der Gemeindeverwaltung von Listrac will sie die Anzahl der zwischen 2002 und 2013 an Krebs gestorbenen Einwohner eruieren, aber es ist schwierig für sie, an die Informationen zu kommen. "Ich berühre da ein sehr intimes Geheimnis – die Krankheit."

In diesem Jahr, 2014, mit allen kontinuierlichen Schikanen des "Milieus" kam Marie-Lys ein bisschen ins Wanken, als im Jänner das Gericht ihren Antrag verwarf, die Berufskrankheit ihres verstorbenen Bruders anzuerkennen. François Lafforgue, ihr Anwalt, legte sofort Berufung ein. Trotz allem blieb er ruhig und sagte, er sei "überzeugt, gute Chancen zu haben, den Prozess zu gewinnen". In sechs Monaten, in einem Jahr, der Anwalt weiß es nicht.

Marie-Lys führt ihren Kampf weiter: Sie arbeitet an der Durchführung einer Analyse der Luftqualität in der Gemeinde Listrac im Sommer, wenn die Besprühungen ihren Höhepunkt erreichen. Sie hat die Unterstützung von Airaq – einem Verein, der die Luftverschmutzungen misst – und jene der Präsidentin des Regionalrats erreicht. Später einmal wird sie Solenns Haare analysieren lassen. Sie will verhindern, dass ihre Kleine dereinst bei der Arbeit im Weinbau landet. (Aus dem Französischen von Calliope, Môtiers. Michel Bessaguet, derStandard.at, 6.11.2014)