Harte Schale, weicher Kern: Auf der Montenegrina-Schnecke ruhen derzeit viele wissenschaftliche Hoffnungen: Anhand dieser Spezies soll erforscht werden, welche Faktoren zur Entstehung neuer Arten führen.

Foto: Zoltán Fehér

Wien - Mehr als 400 Schneckenarten gibt es in Österreich, rund 300 davon leben an Land. Wissenschafter des Naturhistorischen Museums Wien (NHM) wollen nun mithilfe einiger Schneckenarten mehr darüber erfahren, wie Evolution funktioniert. Deshalb reisen sie im Rahmen eines heuer angelaufenen FWF-Projektes auf die Balkanhalbinsel: Nirgendwo gibt es mehr Schnecken der Gattung Montenegrina, der das Hauptinteresse der Forscher rund um Projektleiterin Elisabeth Haring gilt.

Die Montenegrina gehört zur Familie der sogenannten Schließmundschnecken. Sie entsprechen in kaum einer Hinsicht den Vorstellungen, die wir gewöhnlich von Schnecken haben: Ihre ein bis zwei Zentimeter hohen Gehäuse sind relativ schlank und spitz und im Unterschied zu den meisten anderen Schneckenfamilien nach links gewunden. Bedenkt man, dass Schnecken relativ leicht austrocknen, verwundert auch ihr Lebensraum: unbewachsene Kalkfelsen, an denen sie sich mehrheitlich von Flechten und Algen ernähren. Dass sie dort trotz der Trockenheit überleben, liegt an ihrem Gehäuse: Ziehen sich die Tiere nämlich in ihre Schale zurück, schwingt eine Klappe aus Kalk zu und verschließt so die Öffnung.

Der einzige "Schönheitsfehler" der Montenegrina ist, dass sie in Österreich nicht vorkommt. Abgesehen davon, ist die Gattung für die NHM-Forscher ideal: "Wir kennen rund 400 Populationen von Montenegrina-Arten", sagt Elisabeth Haring. "Das sind so viele, dass wir unsere Ergebnisse statistisch gut absichern können", erklärt ihr Kollege Zoltán Fehér, "aber nicht so viele, dass wir nicht alle erfassen könnten." Tatsächlich sind die Klassen und Unterklassen der Montenegrina gut erforscht: Derzeit geht man von 22 Arten und 88 Unterarten aus. Diese Einteilung dürfte allerdings nicht halten, denn bis jetzt erfolgte sie ausschließlich anhand morphologischer Merkmale, und diese sind manchmal irreführend.

So enthält etwa die nach außen einheitlich aussehende Gemeine Haarschnecke genetisch so unterschiedliche Gruppen, dass diese wahrscheinlich mehrere Arten bilden. Das fanden die Wissenschafter des NHM in einem Projekt bezüglich ostalpiner Landschnecken heraus. Andererseits berichtet Fehér von zwei Montenegrina-Formen in einem Tal in Albanien, wobei die Schale der einen glatt, die der anderen gerippt ist. Genetisch sind die beiden trotzdem nah verwandt.

Artenbildung braucht Zeit

Es ist also nicht immer klar, was eine eigenständige Art ist. Der biologische Artbegriff geht davon aus, dass sich die Mitglieder einer Spezies untereinander fortpflanzen können, nicht aber mit Angehörigen anderer Spezies. "Arten bilden sich natürlich nicht von heute auf morgen", sagt Fehér. "Es gibt eine Übergangszeit, in der sich in der Entstehung begriffene Arten noch mit nahe verwandten Gruppen fortpflanzen können." Man einigt sich in der Wissenschaft in der Regel darauf, die betreffende Gruppe als Unterart zu sehen. Das erklärt auch die vielen Unterarten der Montenegrina.

Die Forscher des laufenden FWF-Projekts wollen auf Basis genetischer Untersuchungen jetzt eine neue Systematik erstellen. "Derzeit konzentrieren wir uns auf vier Gene, anhand deren wir Verwandtschaftverhältnisse bestimmen können", sagt Projektmitarbeiterin Katharina Jaksch. "Wir werden auch testen, ob und in welchem Ausmaß sich Populationen kreuzen."

Eine der zentralen Fragen der Evolutionsbiologie ist, ob neue Arten vor allem deshalb entstehen, weil sie sich an selektiven Druck anpassen. Diese Frage will das aktuelle Projekt beantworten. Deshalb sei es so wichtig, die systematischen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Montenegrina-Formen genau zu erfassen.

In der Regel entstehen Arten auf zwei verschiedenen Wegen: Entweder die Mitglieder einer Population werden durch eine geografische Barriere so lange voneinander getrennt, dass sie unterschiedliche Eigenschaften entwickeln und sich nicht mehr miteinander paaren. Oder die Angehörigen einer Art sind zwar räumlich verbunden, besetzen innerhalb des gemeinsamen Lebensraumes jedoch unterschiedliche Nischen. Auch dadurch können sich Populationen im Laufe der Zeit trennen, was irgendwann dazu führt, dass sie sexuell nicht mehr zusammenpassen. Ein klassisches Beispiel dafür sind die Buntbarsche des Viktoriasees: Jede Buntbarschart besiedelt dort eine eigene ökologische Nische.

Bei der Montenegrina-Schnecke sind sich Wissenschafter nicht einig, wie neue Arten entstehen: durch Anpassung an Umweltgegebenheiten oder durch geografische Isolation? Manche Arten der Schnecke bewohnen ausschließlich abgeschiedene Felsformationen. Weil sich die Schnecke nur wenige Meter pro Jahr bewegt, könnte schon ein sonnenexponierter Hang zwischen zwei Populationen eine wirksame Barriere für Kontakte sein und damit zur Bildung einer neuen Art führen. Doch auch Umweltfaktoren wie Temperatur oder Feuchtigkeit können bewirken, dass neue Schneckenarten entstehen. Um das zu klären, verknüpfen Haring und ihre Mitarbeiter morphologische und genetische Daten mit Umweltparametern.

Das Naturhistorische Museum Wien ist für dieses Projekt wie geschaffen: Zur Zeit Österreich-Ungarns wurden in den eigenen Teilen des Balkans und im damaligen Osmanischen Reich eifrig Schnecken gesammelt. Deshalb besitzt das Museum heute die laut Fehér "wahrscheinlich umfangreichste Balkan-Sammlung der Welt". Vergleichbare Schätze beherbergte bis 1956 nur das Ungarische Naturwissenschaftliche Museum. Das wurde aber im Zuge der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstandes beschossen und zerstört - und damit waren auch die Schnecken verloren. (Susanne Strnadl, DER STANDARD, 15.10.2014)