"Unsere Gesellschaft ist immer weniger bereit, Fragestellungen zu unterstützen, die keine praktische Anwendung haben - dafür müssen wir kämpfen." Francesca Ferlaino, Professorin für experimentelle Quantenphysik, in ihrem Labor an der Universität Innsbruck.

Foto: Uni Innsbruck

STANDARD: Sie arbeiten mit ultrakalten Atomen. Welche Phänomene treten nahe dem absoluten Temperaturnullpunkt auf, die Sie sonst nicht beobachten könnten?

Ferlaino: Bei diesen tiefen Temperaturen beginnt die quantenmechanische Natur der Objekte eine Rolle zu spielen. Atome verhalten sich dann nicht mehr wie Teilchen, sondern wie Wellen. Wenn wir uns dafür interessieren, wo das Atom ist, sehen wir, dass es überall ist, weil es eine Welle ist. Objekte, die sehr weit voneinander entfernt sind, können kommunizieren, weil sie diese Wellennatur haben. Wenn wir die Temperatur noch weiter verringern, sind die Wellen der Atome so lang, dass sie sich überlappen - die Atome verhalten sich deswegen in gleicher Weise. Diesen Effekt nennt man Bose-Einstein-Kondensation. Wenn man dieses Phänomen auf eine Gesellschaft umlegt, wäre das eine sehr starke, geschlossene Gesellschaft, wo die individuellen Eigenschaften verloren gehen.

STANDARD: Von welchen Temperaturen sprechen wir hier, und wie kann man sie erreichen?

Ferlaino: Das Prinzip nennt sich Laserkühlung. In der klassischen Intuition ist es sehr schwer, sich vorzustellen, dass Licht, das keine Masse hat, ein Objekt mit Masse bewegen kann. In der Quantenphysik zeigt sich aber, dass man mit einem Lichtstrahl ein Objekt umlenken oder auch bremsen und abkühlen kann. Mit diesem Prozess kann man die Temperatur von Atomen auf Mikrokelvin kühlen - das sind acht Größenordnungen tiefer als Raumtemperatur. Das Temperaturempfinden von Menschen reicht von kochendem Wasser bei 100 Grad Celsius zu Eis bei null Grad - das sind nur zwei Größenordnungen. Obwohl ich damit arbeite, ist es selbst für mich schwer, mir vorzustellen, wie kalt das ist.

STANDARD: Kann man noch tiefere Temperaturen erreichen?

Ferlaino: Physiker haben eine Möglichkeit gefunden - evaporative Kühlung. Dabei wird ein Atom nach dem anderen entfernt - nach dem Teetassenprinzip: Wenn man heißen Tee trinkt, steigt Dampf auf und dieser führt heiße Atome ab. Damit kann man weitere drei Größenordnungen tiefer gehen - bis zu Nanokelvin. Das ist die Temperatur, bei der Bose-Einstein-Kondensate auftreten.

STANDARD: 2012 hatten Sie eine wichtige Publikation zur Bose-Einstein-Kondensation mit Erbium. Ihrer Gruppe gelang es als erster weltweit, ein Bose-Einstein-Kondensat mit diesem Element der Seltenen Erden zu erzeugen. Arbeiten Sie weiter daran?

Ferlaino: Ja. Denn Erbium ist ein sehr interessantes Element, da es starke magnetische Eigenschaften hat. Es ist schon lange bekannt und war immer im Periodensystem, aber bisher ist es noch nie in der Quantenphysik untersucht worden. Seltene Erden werden beispielsweise verwendet, um Mobiltelefone vibrieren zu lassen. Deshalb wurde Erbium sehr viel teurer, als Smartphones auf den Markt kamen. Wir interessieren uns besonders für das quantenmechanische Verhalten der magnetischen Kraft. Vielleicht haben Sie als Kind versucht, zwei Seiten eines Magneten zusammenzuführen und gestaunt, wie schwer das ist. Wir versuchen genau das - mit einzelnen Atomen.

STANDARD: Welche Anwendungen könnte Ihre Forschung haben?

Ferlaino: Mir würden schon einige Anwendungen einfallen, aber ich will mich nicht darauf fokussieren. Grundlagenforschung dient dazu, grundlegende Fragen zu beantworten. Unsere Gesellschaft ist immer weniger bereit, Fragestellungen zu unterstützen, die keine praktische Anwendung haben - dafür müssen wir kämpfen.

STANDARD: Eine grundlegende Frage betrifft den Übergang zwischen Quantenphysik und klassischer Physik. Denken Sie, dass es eine prinzipielle Grenze gibt?

Ferlaino: Ich denke nicht, dass uns die Antwort zum jetzigen Zeitpunkt zugänglich ist. Wir müssen noch mehr darüber lernen, wie man von einem Bereich in den anderen kommt. Wahrscheinlich gibt es nicht nur eine Antwort, sondern sie hängt davon ab, welchen Effekt man betrachtet.

STANDARD: Sie haben zu einer Zeit Karriere gemacht, als klar war, dass es nicht für alle guten Forscherinnen und Forscher fixe Stellen im Wissenschaftsbetrieb gibt. Haben Sie darüber manchmal nachgedacht?

Ferlaino: Nein. Ich habe mir immer gedacht, entweder ich mache Physik oder ich mache gar nichts. (lacht) Ich kann mich erinnern, als ich ein sehr kleines Mädchen war, habe ich ein Atomkraftwerk besucht. Das hat mich wahnsinnig fasziniert - die Idee, dass man Energie produzieren kann, nur indem man Atomphysik anwendet. Die romantische Idee, Physikerin zu werden, hatte ich, bis mein Physikunterricht in der Schule begann. Es ist ein Problem, dass so viele Menschen sagen: "Physik? Das ist ein Alptraum für mich." Aber Physik ist kein Alptraum, es kann nur an schlechten Lehrern liegen. Kurz bevor ich inskribiert habe - noch unentschlossen zwischen Philosophie und Medizin -, hatte ich das Glück, einen Freund an der Uni besuchen zu können. Er studierte Physik und ich hörte einen Mathematikkurs im zweiten Jahr. Ich war vollkommen fasziniert, denn ich verstand gar nichts. Auch hatte ich die Möglichkeit, mit einem Physiker zu sprechen. Ich sagte zu ihm: "Ich habe keine Ahnung, wie man einen Computer bedient, ich weiß nichts über Physik und spreche kein Englisch." Er sagte: "Dass du nichts weißt, ist sogar ein Vorteil." So inskribierte ich Physik.

STANDARD: In der Zwischenzeit haben Sie eine beachtliche Karriere gemacht und sind auch sehr erfolgreich in der Einwerbung von Geldern. Sind Sie zufrieden mit der derzeitigen Forschungsfinanzierung?

Ferlaino: Darüber bin ich besorgt. Es gibt in Österreich mit dem Wissenschaftsfonds FWF eine sehr gute Struktur der Forschungsförderung. Es ist sehr traurig zu sehen, dass über die Kürzung des FWF-Budgets diskutiert wird. Gleichzeitig steigt der Betrag, den die EU für Forschungsförderung zur Verfügung hat. Ich frage mich, ob hier ein Zusammenhang besteht. Man hört immer öfter bedenkliche Geschichten, wie das Geld dort verteilt wird. Ich befürchte, dass die Forschungsförderung zu einer Marketingangelegenheit wird. Man hört zum Beispiel von Agenturen, denen man ein paar Stichworte und viel Geld gibt, und Nichtwissenschafter schreiben dann Anträge mit all den Keywords wie "outstanding", "high risk" oder "high gain". Die Nationalstaaten sollten selbst bestimmen können, in welchen Feldern sie Schwerpunkte setzen.

STANDARD: Wann immer Forscherinnen über die Vereinbarkeit ihrer Karriere mit Familie sprechen, gibt es Leserzuschriften mit der Klage, das würde nichts zur Sache tun. Sie haben im Vorfeld gesagt, dass es Ihnen ein Anliegen ist, über dieses Thema zu sprechen. Nun bin ich neugierig.

Ferlaino: Frauen sollten die Wahl haben zu entscheiden, ob sie zurück ins Arbeitsleben gehen wollen, obwohl die Kinder noch jung sind, oder ob sie daheimbleiben wollen. In Italien haben sie diese Wahl nicht - es gibt kaum finanzielle Unterstützung. So werden die Frauen in den Beruf zurückgedrängt. Es ist fantastisch, dass es in Österreich ein hohes Kindergeld, Familienbeihilfe und lange Karenzzeiten gibt. Aber es wird eine Kettenreaktion für die Frauen: Wenn man diese Angebote nicht nutzt, wird man in Österreich oft als Rabenmutter hingestellt. Das führt bei Frauen zu Schuldgefühlen. Die Möglichkeiten, neben Kindern zu arbeiten, sind in diesem Land für Väter und Mütter sehr ungleich verteilt.

STANDARD: Wie meistern Sie den Balanceakt?

Ferlaino: Ich löse das gemeinsam mit meinem Partner. Er ist aus dem Baskenland in Nordspanien, daher haben wir einen ähnlichen kulturellen Hintergrund. Außerdem haben wir ein Kindermädchen. Das ist natürlich teuer - aber die einzige Möglichkeit. Wäre ich in Italien geblieben, hätte ich nicht diese fantastischen Forschungsmöglichkeiten, aber ich hätte mehr Optionen für Kinderbetreuung. Dennoch muss ich sagen, dass ich mich in Österreich nun wirklich zu Hause fühle. (Tanja Traxler, DER STANDARD, 15.10.2014)