Foto: Jean Tirole

Stockholm - Wenn von Marktwirtschaft die Rede ist, dann wird oft ein Wirtschaftssystem gemeint, in dem Unternehmen im Wettbewerb stehen und daher mit den besten Produkten und Dienstleistungen um Kunden rittern. Doch diese Situation ist selten, weil Monopole und Kartelle Wettbewerb verhindern.

Wegen Jean Tirole, eines 61-jährigen französischen Ökonomen der Universität Toulouse, verstehen Behörden heute besser, wie dominante Firmen ticken und wie man mit ihnen umgeht, um mächtige Großkonzerne zu zähmen. Damit ist er zu einem "der einflussreichsten Ökonomen unserer Zeit" geworden, urteilt die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaft und hat Tirole daher die höchste wirtschaftswissenschaftliche Auszeichnung verlieren. Der "Preis der Schwedischen Reichsbank für Wirtschaftswissenschaften zum Andenken an Alfred Nobel" - weitläufig als Wirtschaftsnobelpreis bekannt - ist wie alle Nobelpreise mit acht Millionen schwedischen Kronen dotiert (ungefähr 880.000 Euro), wurde aber erst 1968 von der Reichsbank gestiftet. In den vergangenen zehn Jahren hatten zwanzig Ökonomen die Ehre, neben dem Franzosen Tirole war nur der Zypriote Christopher Pissarides kein US-Amerikaner.

Großer Einfluss für Kartellrecht

Tirole habe mit seiner Arbeit weltweit Kartellbehörden geprägt, sagte am Montag Per Strömberg, Mitglied des Preiskomitees. "Ob sie über Preisdumping oder Exklusivverträge urteilen oder entscheiden müssen, ob sie eine Fusion zweier Unternehmen erlauben - in solchen Situationen hat Tiroles Arbeit großen Einfluss."

Karl Aiginger, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo, hat 1991 am renommierten MIT Tirole als Professor kennengelernt: "Er hat die Industrieökonomik revolutioniert", sagt Aiginger. Allerdings habe Tirole selbst sich selten mit Vorstößen in die politische Debatte eingebracht. Tirole habe aber "ein Arsenal an Argumenten", oft über mathematische Modelle, geschaffen, die Kartellwächter auf der ganzen Welt heute einsetzen.

Altes, aber gutes Lehrbuch

Der Franzose hat Meilensteine in der Industrieökonomik gesetzt. Dort beschäftigt man sich mit dem Verhalten von Unternehmen, je nachdem wie der Wettbewerb in der Branche aussieht. Sein 1988 erschienenes Lehrbuch ist 25 Jahre später noch immer Standard an den Universitäten. Obwohl es Tirole nie aktualisiert hat. "Die Profession wünscht sich nichts sehnlicher, als dass er endlich eine neue Version herausbringt", sagt Wieland Müller von der Universität Wien. Wenn es teilweise nicht mehr aktuell sei, liege das hauptsächlich daran, dass Tirole selbst neue Erkenntnisse gewonnen habe, schreibt das Komitee in einer Mitteilung.

Google: Tendenz zum natürlichen Monopol

So hat Tirole nicht nur die Spiel- und Kontrakttheorie in der Industrieökonomik verankert. Er hat auch wesentlich zum Verständnis von zweiseitigen "Plattform"-Märkten beigetragen. Das sind etwa Medienmärkte, die zwei Kundenseiten haben. Am Beispiel des Suchmaschinen- und Medienkonzerns Google: Nutzer haben viel von der Suchmaschine, ohne zu bezahlen. Sie werden quasi subventioniert. Werbekunden hingegen werden zur Kasse gebeten. Unternehmen wie Google hätten eine eingebaute Tendenz zum Monopol, warnt Tirole, Regulatoren müssten aufpassen, damit es nicht zu Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht komme, sagte er am Montag.

Für Agnes Streissler, Ökonomin und wirtschaftspolitische Beraterin in Wien, "ist es Tiroles großer Beitrag, dass er mit seinen Analysen Regulierungsbehörden eine breite Auswahl ermöglicht hat". Er habe es ermöglicht, dass Ökonomen bei Branchenfragen heute deutlich genauer hinsehen könnten, ob ein Unternehmen seine Marktmacht missbraucht oder nicht.

Auch in der Praxis ist Tirole aktiv vertreten. So hat etwa die Generaldirektion Wettbewerb innerhalb der EU-Kommission um seine Stellungnahme zu kartellrechtlichen Themen gebeten und seine Arbeit zu Kreditkartenunternehmen in Entscheidungen zitiert. Zuletzt haben Europas Wettbewerbshüter in ihren Ermittlungen gegen die Plastikkartenanbieter Visa und Mastercard Tiroles Studien genutzt. (sulu/sat, DER STANDARD, 14.10.2014)