Moskau - Die älteste und größte russische Menschenrechtsorganisation Memorial steht möglicherweise vor der Zerschlagung durch die Regierung. Nachdem der Oberste Gerichtshof in Moskau am Freitag angekündigt hatte, den Fall am 13. November behandeln zu wollen, erklärte die Organisation am Samstag, rechtliche Schritte einleiten zu wollen, um eine Auflösung zu verhindern.
Nach Angaben von Memorial-Direktor Alexander Tscherkassow zweifelt das russische Justizministerium die Rechtmäßigkeit der Organisationsstruktur von Memorial an. Dies sei jedoch ebenso "absurd" wie alle anderen Vorwürfe gegen die Gruppe, sagte Tscherkassow.
"Schon das Verfahren selbst ist eine Beleidigung für die Menschen, die in den vergangenen 20 Jahren die Arbeit gemacht haben, die der Staat hätte machen sollen", sagte Memorial-Mitglied Jan Raschinski. Sollten die Behörden mit dem Verbot des Dachverbands Erfolg haben, drohten die Unterorganisationen in eine rechtliche Grauzone gedrängt zu werden. Die Gruppen müssten sich neu registrieren, ihr Überleben wäre infrage gestellt.
Repressionen
Nach Einschätzung Raschinskis steht aber zumindest vorerst nicht die Existenz des Moskauer Zentrums für Menschenrechte auf dem Spiel - das Herzstück von Memorial. Der Memorial-Vertreter Oleg Orlow dagegen erwartet weitere Repressionen. Das angestrengte Verfahren sei "ein Schuss vor den Bug".
Die Organisation kündigte am Samstag an, "in naher Zukunft" das russische Justizministerium verklagen zu wollen. Dazu werde Klage beim Verfassungsgericht eingereicht, hieß es in einer Mitteilung. Memorial-Geschäftsführerin Jelena Schemkowa kündigte an, die Organisation werde den Obersten Gerichtshof auffordern, die Anhörung zu verschieben. Dann hätte Memorial Gelegenheit, seine Satzung zu ändern. "Im schlimmsten Fall werden wir mit einer neuen Form und Struktur aufwarten", sagte Schemkowa dem Radiosender "Moskauer Echo".
Der Beauftragte für Zivilgesellschaft und Menschenrechte von Russlands Präsident Wladimir Putin, Michail Fedotow, sagte er hoffe, dass Memorial nicht aufgelöst werde. Sollte es zu einer Zerschlagung kommen, wäre dies ein "schwerer Schlag für Russlands Image", sagte Fedotow. Er hoffe, dass das Gericht die Anhörung verschiebe.
Memorial hat sich um die Dokumentation der Verbrechen aus der Stalin-Zeit verdient gemacht und positioniert sich regelmäßig zu Menschenrechtsfragen, steht aber unter wachsendem staatlichen Druck. Im Mai wurde die Nichtregierungsorganisation von der russischen Justiz dazu verpflichtet, sich ins Register "ausländischer Agenten" eintragen zu lassen, weil sie finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalte und politische Ziele verfolge. Memorial macht zwar keinen Hehl daraus, sich mithilfe ausländischer Unterstützer zu finanzieren, weist den Vorwurf einer politischen Steuerung aus dem Ausland aber zurück. (APA, 12.10.2014)