Wallraff: Den meisten ist er noch mit seinem zweijährigen Undercover-Einsatz als türkischer Leiharbeiter "Ali" in Erinnerung. "Ganz unten" (1985) hat sich über fünf Millionen Mal verkauft. Aktuell waren Wallraff und sein Recherche-Team unterwegs in Sachen miserable Arbeitsbedingungen.

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STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Die Lastenträger" beschreiben Sie "Arbeit im freien Fall" und "flexibles Schuften ohne Perspektive". Wo in Deutschland, das wirtschaftlich deutlich besser dasteht als andere EU-Staaten, haben Sie besonders prekäre Zustände vorgefunden?

Wallraff: Überall dort, wo ungelernte Arbeitskräfte rasch und vermeintlich billig zu haben sind. Die Autoren haben teils offen, teils undercover etwa bei den Online-Versandhändlern Amazon und Zalando, im Schlachthof, im Reinigungsgewerbe oder bei Paketdiensten recherchiert. Wir haben Missstände im Pflegebereich gesehen, aber auch beim deutschen Aushängeschild Daimler. Die Menschen, die dort unter empörenden Bedingungen und miserabel bezahlt schuften, sind die Schattenseite des von der Politik raffiniert propagierten "Jobwunders" in Deutschland, von dem die ganze Welt spricht.

STANDARD: Was hat Sie besonders schockiert?

Wallraff: Dass es keine einzelnen Missstände in bestimmten Bereichen sind, sondern Zustände, die sich immer mehr zu einem System auswachsen. Man kann von einer Metastasierung in der Wirtschaft sprechen. Manches ist schier unglaublich. Mitarbeiter werden bespitzelt, dürfen sich nicht hinsetzen - auch wenn gerade Stillstand ist, müssen sie in den riesigen Lagern der Online-Versandhändler ständig in Bewegung sein, bis zu 30 Kilometer am Tag laufen, und all das wird permanent elektronisch überwacht. Sie bekommen zunächst nur befristete Verträge und erfahren oft erst am letzten Arbeitstag, ob sie - meist befristet - übernommen werden oder nicht. Im Buch wird von einem Mann berichtet, der bei Amazon nicht übernommen wurde und dann barfuß nach Hause gehen musste, weil er seine Arbeitsschuhe bei Amazon lassen musste.

STANDARD: Vor 30 Jahren schufteten Sie als türkischer Gastarbeiter Ali bei McDonald's und ThyssenKrupp und beschrieben die Zustände in den Betrieben in Ihrem Bestseller "Ganz unten". Wenn man "Die Lastenträger" liest, hat man den Eindruck, es habe sich seit den Achtzigerjahren nichts geändert.

Wallraff: Ali war damals auch noch massiver Ausländerfeindlichkeit ausgesetzt. Das ist heute anders. Wenn sich Menschen heute als Arbeitskräfte auspressen lassen, dann sind Herkunft und Hautfarbe nicht mehr das Hauptproblem.

STANDARD: Ein schwacher Trost.

Wallraff: An den Tatorten selbst hat sich auch immer etwas verbessert. Als ich damals diese Missstände aufdeckte, setzte das Land Nordrhein-Westfalen eine mobile Einsatzgruppe ein, die in Betrieben verstärkt kontrollierte, ob die Standards eingehalten werden. Bei ThyssenKrupp beruft sich der Betriebsrat heute noch auf diese "Ali-Gruppe", wie sie intern genannt wurde. Auch jetzt haben mein Team und ich im konkreten Fall immer kleine Verbesserungen erreichen können: Sitzgelegenheiten für Mitarbeiter oder mehr Ruhezeiten.

STANDARD: Doch bevor Sie die Missstände öffentlich machen, kollabieren immer wieder Mitarbeiter in den Lagerräumen, weil dort die Luft so schlecht ist. Warum wehren sich die Arbeitnehmer nicht?

Wallraff: Sie stecken in diesem Gefüge fest. Es sind Millionen, aber sie sind doch unsichtbar. Und sie haben meist keine Kraft, um sich zu wehren. Wer den ganzen Tag - oft zwölf Stunden und mehr - schuftet und dafür dann doch nur ein paar Euro bekommt, der resigniert irgendwann. Dort führt man wirklich einen Kampf ums Überleben, vor allem wenn Kinder zu versorgen sind. Die Leute holen das Letzte aus sich heraus, um durchzukommen. Dabei reichen diese prekären Jobs nicht zum Leben, oft muss der Staat noch das Gehalt aufstocken. Das ermutigt diese Firmen ja geradezu, leichtfertig zu entlassen und immer noch billigere Leute einzustellen.

STANDARD: Welche gemeinsamen Merkmale haben diese Unternehmen - abgesehen davon, dass die Chefs auf ungelernte und billige Arbeitskräfte zurückgreifen können?

Wallraff: Man darf nicht generell alles verteufeln, was aus den USA kommt. Der Paketkonzern UPS hat beispielsweise - was die Arbeitsbedingungen seiner Zusteller betrifft - bessere Standards als Mitbewerber. Aber dennoch hat das Unternehmen Ebay Maßstäbe gesetzt, die dann von anderen übernommen werden. Das hat manchmal sektenhafte Züge, wenn bei Zalando alle gemeinsam "Wir sind ein Team" rufen müssen.

STANDARD: Dabei scheint es ja kaum Zusammenhalt zu geben. Es wird immer wieder geschildert, wie jene, die in der Hierarchie weiter oben stehen, die Untergebenen zu mehr Leistung anstacheln und erklären: Ich habe auch noch einen Chef über mir, der verlangt das.

Wallraff: Diese autoritären Strukturen begünstigen natürlich das Klima. Viele Betriebe holen junge Manager direkt von den Universitäten. Die sind dankbar für die Chance und wollen zeigen, was sie aus dem Laden alles rausholen können. Ich spreche auch viel mit solchen Leuten, oft werden ja leitende zu leidenden Angestellten, die selbst überfordert sind. Einer musste - auf Geheiß der Firmenleitung - jemandem Diebesgut unterschieben, weil die Chefs diese Person loswerden wollten.

STANDARD: Gibt es nicht eine Verantwortung eines mittleren Managers zu sagen: Stopp, das mache ich nicht mit?

Wallraff: Ja, aber der Einzelne kann in solchen Systemen wenig ausrichten. Wer nicht pariert, fliegt und wird sofort ersetzt. Oft sind es ja eher die sozial Eingestellten, die auf der Strecke bleiben. Eine Verbesserung ist es, wenn sich Betriebsräte gründen können. Aber das wird von den Unternehmern oft erschwert oder gezielt bekämpft.

STANDARD: Glauben Sie, dass es zu sozialen Aufständen kommen könnte?

Wallraff: Nein, zurzeit nicht. Die Lethargie ist doch zu groß.

STANDARD: Wo müsste man ansetzen, um bessere Bedingungen zu erreichen?

Wallraff: Bei der Macht der Verbraucher. Das ist mühsam und wird eine Weile dauern. Aber ich bin dennoch zuversichtlich. Dass es funktioniert, hat man schon bei anderen Missständen gesehen.

STANDARD: Welche meinen Sie?

Wallraff: Viele Menschen sind nicht mehr bereit, Fleisch zu essen, das aus Massentierhaltung stammt. Die Konsumenten sind mittlerweile auch sehr sensibilisiert, was Kinderarbeit bei Kleidung betrifft. Das kann sich ein Unternehmen heute nicht mehr einfach leisten. Wenn Verbraucher beginnen, Produkte nur noch dann zu kaufen, wenn sie unter akzeptablen Bedingungen hergestellt und geliefert werden, zwingt das Konzerne zum Umdenken.

STANDARD: Wissen die Konsumenten noch zu wenig, wie es in vielen Unternehmen zugeht? Oder wollen sie es vielleicht gar nicht wissen?

Wallraff: Beides. Viele wollen eben einfach konsumieren. Andere machen sich schon Gedanken, aber das war's dann auch schon. Man kann es ihnen oft auch gar nicht verdenken. Die meisten sind so eingespannt, arbeiten und arbeiten, haben kaum Freizeit. Da ist nun mal der Online-Versandhandel der schnellste und bequemste Weg, um etwas zu bestellen. Aber da ist Sensibilisierung im Gange.

STANDARD: Woran merken Sie das?

Wallraff: Amazon etwa kommt durch Autorenproteste bei seinen Buchrabatten auf Kosten der Autoren immer mehr unter Druck. Man kann auch beobachten, dass nach Enthüllungen meines Teams die kritischen Einträge auf den Websites der Unternehmen stark ansteigen.

STANDARD: Sie und Ihr "Team Wallraff", das für RTL undercover arbeitet, haben gerade den Deutschen Fernsehpreis bekommen. Was bedeutet Ihnen das?

Wallraff: Das ist schon eine Ermutigung. Wir erreichen mit unseren Sendungen, in denen diese Missstände gezeigt werden, 4,5 Millionen Zuschauer. Es freut mich, dass das vor allem junge Menschen sind, die diese Ausbeutung immer weniger hinnehmen wollen. Die schauen die Sendung, obwohl wir einiges nur mit verwackelten Bildern von versteckten Kameras dokumentieren können. Inzwischen bereitet auch, wie ich erfahren habe, ein öffentlich-rechtlicher Sender ein ähnliches Undercover-Format vor. Das ist gut, je mehr Druck entsteht, desto eher kann sich etwas ändern. (Birgit Baumann, Album, DER STANDARD, 11./12.2014)