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Piketty tourt im Moment durch die USA und rührt dort die Werbetrommel für sein Buch.
Foto: reuters

Wir befinden uns im Jahr 1994 nach Christus. Die gesamte Ökonomie ist damit beschäftigt, der Wirtschaftsleistung beim Wachsen zuzusehen. Die gesamte Ökonomie? Nein. Ein unbeugsamer Franzose leistet Widerstand. Thomas Piketty will nicht nur auf das Bruttoinlandsprodukt schauen, sondern auch darauf, wer wie viel davon abbekommt. Mit 23 Jahren veröffentlicht er damals sein erstes Buch zum Thema und steht damit alleine auf weiter Flur. Legionen von Ökonomen beschäftigten sich lieber mit anderen Themen. Das alte Rom hat wenig für ihn übrig.

Sein Interesse daran, wer in der Bevölkerung wie viel besitzt, hat er trotzdem nicht verloren. Jetzt steht er mit seiner Arbeit aber nicht mehr im Abseits, sondern im Rampenlicht. Er hat es zur Berühmtheit geschafft, ganz ohne Zaubertrank. Sein Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert, in dem er den wachsenden Spalt zwischen Oben und Unten unter die Lupe nimmt, wurde in den USA zum Bestseller. Diese Woche erschien es auf Deutsch.

Piketty sieht dunkle Zeiten auf den Kapitalismus zukommen. Er warnt vor der Dominanz einer kleinen Elite. Seine These: Die Weltkriege haben in Europa den Großteil des Vermögens zerstört. Seither wächst es aber wieder stark. Diese Vermögen werfen Geld ab: Häuser lassen sich vermieten, Aktien bringen Dividenden. Weil die Vermögen aber sehr konzentriert sind, profitieren nur einige wenige davon. Je schneller die Vermögen aber wachsen, desto mehr Geld werfen sie für diese Gruppe ab. Und der Trend zeigt für Europa steil nach oben, wie seine Zahlen zeigen. Für Piketty sind Steuern auf Vermögen der einzige Ausweg.

Seine Lösungsvorschläge haben unter etablierten Ökonomen wenig Anklang gefunden. Die Financial Times kritisierte seine Methodik. Für seine penible Zahlenarbeit wird der Franzose aber von fast all seinen Kollegen geschätzt. Jahre bevor er einer breiten Masse bekannt wurde, hat er unter Forschern einen Stein ins Rollen gebracht. Lange konnten Ökonomen wenig bis gar nichts über die tatsächliche Verteilung von Einkommen sagen. Die wackeligen Daten, die man hatte, wurden je nach Ideologie lächerlich gemacht oder überinterpretiert. In Österreich ist man wegen unzureichender Steuerdaten weiter auf Befragungen angewiesen, bei denen Menschen persönlich oder am Telefon ihre Einkommen angeben. Reiche machen da aber nur selten mit.

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Das Buch des Franzosen schlägt in der Ökonomie große Wellen.
Foto: ap/kakade

Für viele andere Länder ist die Arbeit aber erledigt, die Datenlage hat sich massiv verbessert. Der Franzose hat seine Zunft aufgeweckt. Viele Ökonomen kopierten seine Arbeitsmethoden, begannen damit, Statistiken auszugraben. Angefangen hat Piketty damit, Daten über sein Heimatland zu sammeln, 2001 veröffentlichte er den ersten Datensatz. Dabei ging er bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück.

Piketty unterzieht Gemeinplätze einer kritischen Prüfung. Besserverdiener verdienen immer mehr? In Frankreich stimmt das nur bedingt. Das oberste Prozent der Einkommen hat seinen Anteil in den vergangenen 30 Jahren nur leicht ausgebaut. Von sieben auf neun Prozent vor der Krise. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs waren es 18 Prozent.

Anders in den USA: Dort hat das oberste eine Prozent seinen Anteil in den vergangenen 30 Jahren mehr als verdoppelt. Das ist wohl mit ein Grund, warum das Piketty-Buch bei den Amerikanern so eingeschlagen hat. Die Zahlen zu den Top-Einkommen werden in eine Datenbank gesteckt, die online gratis einsehbar ist. Mittlerweile sind 30 Länder dabei, zehn bis 15 weitere sollen alleine heuer noch dazukommen.

Die Mehrheit davon stammt aber nicht von Piketty selbst. Der Franzose betreibt die "World Top Income Database", die auch in sein Erfolgsbuch eingeflossen ist, mit drei anderen Ökonomen, mit denen er eng befreundet ist. Mit Landsmann Emmanuel Saez hat er Daten über die USA gesammelt. Ein anderer ist Facundo Alvaredo, er hat seine Doktorarbeit bei Piketty geschrieben und arbeitet seither mit ihm zusammen. Der 40-jährige Argentinier verbringt viel Zeit damit, anderen interessierten Forschern zu helfen. Mittlerweile sind nämlich 40 Ökonomen dabei, Studien und Material zuzuliefern. Damit die Daten vergleichbar bleiben, ist viel Koordinierungsarbeit notwendig.

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Forscher der Wiener Wirtschaftsuni scheiterten an den heimischen Steuerdaten.
Foto: apa/pfarrhofer

Eine Gruppe von Ökonomen an der Wiener Wirtschaftsuni hat sich drei Jahre lang damit beschäftigt, Österreich in die Piketty-Datenbank hineinzubekommen. Sie mussten aufgeben. Das liegt hauptsächlich am Bankgeheimnis. Wer wie viel an Zinsen oder Dividenden erhält, bleibt in Österreich ein Geheimnis. Aber auch ansonsten bereitet den Ökonomen vieles Kopfschmerzen.

Die Vorkriegszahlen sind mit den Zahlen danach nicht mehr vergleichbar, in Österreich überschneiden sich die Lohn- und Einkommenssteuer teilweise. Wer angestellt ist und nebenbei selbstständige Projekte betreibt, scheint in beiden auf. "Das lässt sich nachher nicht mehr ordentlich bereinigen", sagt Stefan Humer von der Wirtschaftsuni. Auch die Piketty-Truppe wusste keinen Ausweg.

Es gibt zwar aktuelle Befragungen der Statistik Austria und der Nationalbank, die Top-Einkommen lassen sich dadurch aber nicht erheben. Das ist auch der Grund, warum Piketty & Co diese Daten mit einer Ausnahme nicht in ihre Datenbank aufnehmen. Die wirkliche Einkommensverteilung in Österreich wird also auch weiterhin ein Rätsel bleiben. Ein wenig Hoffnung gibt es aber noch. Der Historiker Roman Sandgruber hat Daten zum letzten Jahrzehnt der Habsburgermonarchie ausgegraben. Auch für die Zwischenkriegszeit gebe es noch Dokumente, sagt Sandgruber. "Die liegen irgendwo im Keller der Bibliothek des Statistischen Zentralamts."

Auf das Prinzip Hoffnung müssen sich Länder wie Israel oder der Libanon nicht stützen. Facundo Alvaredo ist mit ihnen laufend in Kontakt, sie sollen bald Teil der Datenbank werden. Er gibt Tipps, was die Arbeit betrifft, erklärt Methoden. "Als wir starteten, glaubten alle, die Daten gebe es gar nicht", sagt Alvaredo. Er sieht seine Arbeit als Mischung von Ökonomie, Geschichte und Archäologie. Zwar graben er und seine Kollegen keine Dinosaurier aus, sie treiben aber immer wieder Zahlen auf, von denen keiner wusste, dass sie existieren.

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Piketty hat auch Star-Ökonom Paul Krugman mit dem Thema Ungleichheit angesteckt.
Foto: reuters/mcdermid

"Südafrika war so ein Beispiel", sagt Alvaredo. "Wir haben Büchereien und Archive über den ganzen Globus abgeklappert." Alleine das habe über ein Jahr gedauert. In Südafrika gibt es seit 1903 eine Einkommenssteuer, aus den Steuerdaten lässt sich auf die Einkommen schließen. Es sei aber meist ziemlich kompliziert, die Zahlen über lange Zeit vergleichbar zu halten. Die Idee hinter der Datenbank ist, die Daten auch mit anderen Ländern vergleichbar zu machen. Das macht das Ganze deutlich komplizierter, aber für die künftige Arbeit damit umso wertvoller.

Damit die Daten so gut wie möglich sind, ist auch Tony Atkinson an Bord. Ohne den 70-jährigen Briten wäre wahrscheinlich auch der Erfolg von Thomas Piketty nicht möglich gewesen. Denn Piketty hat bei Atkinson dissertiert, bei ihm sein Handwerk gelernt. Schon vor über 40 Jahren begann Atkinson sich mit der Messung von Ungleichheit zu beschäftigen. "Früher hat das niemanden interessiert, jetzt bekomme ich jeden Tag eine Einladung zu einer Konferenz", sagt Atkinson. Das Thema hat auch die Aufmerksamkeit des wohl bekanntesten Ökonomen der Welt, Paul Krugman, gewonnen. Krugman, eigentlich kein Experte dafür, wechselt nächstes Jahr an die City University of New York. Dort will er sich dann dem Thema Ungleichheit widmen.

Nicht nur Ökonomen werden nach und nach darauf aufmerksam: Das Piketty-Team hat über Jahre vergeblich versucht, Daten von den Regierungen Mexikos und Brasiliens zu erhalten. "Nach dem Erfolg von Piketty wurde ich auf einmal kontaktiert", sagt Alvaredo. Mittlerweile hat auch die Europäische Union etwas für das Projekt übrig. Sie fördert die Datenbank mit insgesamt zwei Millionen Euro.

Das kleine gallische Dorf rund um Piketty muss wohl jedenfalls nicht länger um seine Existenz fürchten. Im Gegenteil. Die Truppe ist bereit für die Eroberung Roms. (Andreas Sator, DER STANDARD, 11.10.2014)