Bild nicht mehr verfügbar.

Wir wissen, dass wir dieser Überwachung (fast) nicht entgehen können, auch nicht durch Verschlüsselung unserer Kommunikation ...

foto: AP/Francisco Seco

Als ich klein war, wurde unsere beengte Wohnung in Sofia verwanzt, im Rahmen einer großangelegten technischen Maßnahme. Der Leiter der 3. Unterabteilung der II. Abteilung der VI. Hauptabteilung der bulgarischen Staatssicherheit (DeSe), ein Offizier namens Panteleew, hatte vorgeschlagen, eine Reihe von Mikrofonen in unserer Wohnung zu installieren, um die operative Ermittlung gegen das verdächtige Zielobjekt G.K.G. (mein Onkel) zu unterstützen.

Die Umsetzung erfolgte an einem sonnigen Frühlingstag. Zu diesem Zweck mussten alle Bewohner für einige Stunden aus dem Mehr familienhaus entfernt werden. Der Chef meines Onkels wurde angewiesen, diesen auf Dienstreise zu schicken (ein Agent hatte zu überprüfen, ob er in den vorgesehenen Zug stieg, ein anderer, dass er am Zielort dem entsprechenden Zug entstieg).

Der Hauswart wurde eingeweiht und beauftragt, eine Liste der Anwohner zu erstellen, ins gesamt 17 Namen. Meine Tante und meine Großmutter wurden ins Innenministerium vorgeladen, wo man sie sehr lange warten ließ, die Nachbarn einen Stock unter uns namens Tscherwenowi (übersetzt: "die Roten") wurden entsprechend ihrer systemkonformen Haltung zu ausführlichen Gesprächen ins örtliche Volksfrontbüro gerufen.

Die Rentnerin Stambolowa wurde in einen Rentnerklub eingeladen, wo sie ein Mitarbeiter der Staatssicherheit zu beobachten hatte, sollte sie sich wider Erwarten verfrüht auf den Heimweg machen. So wurde jeder weggelockt, damit die Einsatzgruppe, bestehend aus fünf Mitarbeitern der VI. Hauptabteilung, zuständig für die Montage der Mikrofone, in die Wohnung eindringen konnte, ihnen zur Seite zwei weitere Agenten, betraut mit der Aufgabe, den Kontakt mit der Einsatzzen trale aufrechtzuerhalten.

Währenddessen vor der Haustür eine Wachgruppe aus drei Mitarbeitern postiert war, in Funkkontakt mit allen anderen Einheiten, um die notwendigen Maßnahmen absprechen zu können, sollten unerwartete Gäste auftauchen. Gleichzeitig wurde die Dienststelle der Staatssicherheit in der Provinzstadt Blagoewgrad beauftragt, die Eltern meines Onkels unter Beobachtung zu stellen, sollten sie zu einem überraschenden Besuch nach Sofia aufbrechen. Schließlich wurde in Auftrag gegeben, ein "Aggregat zur Lärmverursachung" laufen zu lassen, bis zum Abschluss der Installierung. An dieser Operation waren insgesamt
24 Mitarbeiter der bulgarischen Staatssicherheit beteiligt.

Das war Anfang der Siebzigerjahre. Heute wäre der nötige Aufwand im Vergleich läppisch gering, wenn die betreffenden Objekte der Beobachtung Handys sowie Computer samt Internetanschluss nutzen. Einige Tastaturbefehle, einige Klicks – die sechsköpfige Großfamilie wäre kommunikativ durchleuchtet. Wir müssen nicht von einem hypothetischen Fall ausgehen, so etwas geschieht heute, in diesem Augenblick, in unzähligen Wohnungen auf der Welt. Aber der gerade beschriebene, altbackene Übergriff erschreckt die meisten von uns vermutlich mehr, diese klassische Mischung aus Täuschung, Nötigung und staatlicher Kon spiration, dieses offensichtlich gewaltsame Eindringen in die Privatsphäre von Menschen, die sich dagegen nicht schützen können. Die heutigen perfideren, unsichtbareren Eingriffe und Übergriffe lassen hingegen viele Menschen kalt.

Auf den Türen der Wiener U-Bahn sind zwei Aufkleber zu sehen, ein grüner, der eine Überwachungskamera abbildet, und ein blauer, der einen Kinderwagen zeigt. Die Aussage ist klar und einfach: Wir weisen Sie darauf hin, dass Sie von der Wiege bis zur Bahre unter Beobachtung stehen. So muss es jeder verstehen, der die medialen Enthüllungen und Diskussionen der letzten zwei Jahre auch nur ansatzweise verfolgt hat.

Kaum ein seriöser Artikel zu diesem Thema, der nicht als Erstes auf den geradezu grenzenlosen Umfang der möglichen und tatsächlich praktizierten Überwachung hinweist. Aber der Schwerpunkt des öffentlichen Diskurses hat sich in diesem Zeitraum auf bemerkenswerte und relevante Weise verschoben. Die Existenz der Massenüberwachung wird nicht mehr bestritten, wie noch vor wenigen Jahren, als nicht wenige Kritiker des Buches Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte von meiner Koautorin Juli Zeh und mir Übertreibung und Hysterie vorwarfen. Wir wissen, dass die NSA zwischen drei und vier Milliarden Menschen überwacht, nämlich alle digitalen Bürger und Bürgerinnen des Planeten.

Wir wissen, dass wir dieser Überwachung (fast) nicht entgehen können, auch nicht durch Verschlüsselung unserer Kommunikation, denn bei allen marktüblichen Programmen ist eine kleine Hintertür offen gelassen, durch die Geheimdienste hineinschlüpfen können, so wie einst die osmanischen Belagerer ins nächtliche Konstantinopel. Inzwischen wird das Ausmaß des Datenraffens von niemandem in Abrede gestellt, sondern vielmehr darüber diskutiert, ob eine derartige Generalkontrolle Schaden anrichtet oder nicht.

Dabei wird meistens nach unschuldigen Opfern gesucht, der gesamtgesellschaftliche Schaden hingegen eher außer Acht gelassen. Manche Kommentatoren verneinen jegliche Gefahr für die Rechte des Bürgers, weil die Daten zwar angehäuft, selten aber durchforstet oder gar bearbeitet werden. Andere behaupten, es könne heutzutage und in Zukunft angesichts der technischen Entwicklung ohnehin keine Privatsphäre mehr geben, und Dritte wiederum bezweifeln, dass Überwachung per se eine repressive Maßnahme sei.

Um Aufschluss über die drohenden Gefährdungen für den Einzelnen wie auch für die Ge sellschaft als Ganzes zu erhalten, könnten wir die inzwischen gut dokumentierten Überwachungsstrukturen in den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts heranziehen, die in manch einer Sonntagsrede als beispielhaft für staatlich sanktioniertes Unrecht und massive Beschneidung individueller Freiheiten vorgeführt werden.

Es scheint recht und billig zu sein, von der Vergangenheit lernen zu wollen, wenn ihre Schrecken dem staat lichen Ordnungswillen hierzulande diametral entgegenstehen (Stichwort: "Shoah" oder "Gulag"). Es wäre jedoch dringlicher und sinnvoller, gerade jene vergangenen Grauen zu betrachten, die eine strukturelle Nähe zu heutigen Entwicklungen aufweisen. Gerade dies wird abgelehnt mit der schnell aus der Hüfte geschossenen Abwiegelung, man könne doch Überwachung heute nicht mit der Überwachung damals, die Stasi nicht mit der NSA vergleichen, aufgrund der "demokratischen Verfasstheit unserer Gesellschaft".

Lehren aus der Geschichte

Das erweist sich bei näherem Hinsehen als unüberlegter argumentativer Reflex. Die demokratische Verfasstheit ist weder in Stein gemeißelt noch genetisch einprogrammiert. Sie ist keine endgültige, für alle Zeiten abgesicherte Errungenschaft, sondern ein Prozess, bei dem es zwischenzeitlich zwar einige Erfolge zu verzeichnen gab (der Bürger wurde etwa im Verhältnis zum Staat mächtiger), die jedoch — wie wir gegenwärtig erleben — durchaus wieder rückgängig gemacht werden können. Wir wissen zudem, wie schlecht es um die demokratische Kontrolle der Geheimdienste bestellt ist (selbst die Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums unterliegen oft einem Informationsblackout, begründet mit dem Abrakadabra behördlicher Vertuschung: "nationale Sicherheit").

Auch ist schwer zu verstehen, wieso ein System, das so selbstverständlich von der Überlegenheit und fortwährenden Einhaltung seiner Werte ausgeht, einen solchen Vergleich, der ja zu seinen Gunsten ausfallen müsste, vermeiden will. Wer überzeugt ist, dass die Entwicklungen der letzten Jahre durch und durch de mokratisch legitimiert sind, der müsste den Vergleich geradezu forcieren, um den Unterschied zwischen dem Unrecht der Stasi-Tätigkeit und dem Recht der heutigen Geheimdienstarbeit aufzuzeigen. Wer jeden Vergleich im Keim zu ersticken versucht, der möchte nicht, dass wir Lehren aus der Geschichte ziehen, der erkennt nur allzu klar, dass die Massenüberwachung weder demokratisch noch bürgerrechtlich legitimiert werden kann.

Es ist bekannt, dass Menschen in den Staaten des ehemaligen Ostblocks noch Jahre, mancherorts sogar Jahrzehnte nach 1989 ins Flüstern verfielen, wenn sie etwas Kritisches von sich gaben. Wie wird sich unser aller Verhalten verändern, wenn wir verinnerlicht haben werden, dass auch das leiseste Flüstern erfasst und der Inhalt des Geflüsterten entlarvt werden kann? Wie gehen wir mit der volkstümlichen Weisheit um, "Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten", wenn uns bewusst geworden sein wird, dass aufgrund von Surfverhalten, Aufenthaltsort, Lesegewohnheiten, Bibliotheksausleihe und vielem anderen mehr zumindest die thematische Hinwendung der (eigenen) Gedanken, wenn nicht gar ihre Ausprägung, sichtbar gemacht werden kann. Hören wir dann auf zu denken? Überwachung führt unweigerlich zu Selbstzensur, der elegantesten und effizientesten Form von Zensur, die es je gegeben hat.

Wir verfügen dank einiger in letzter Zeit durchgeführter Umfragen und Studien schon reichlich über Anhaltspunkte, wie das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger, aber auch bestimmter professioneller Gruppen (Schriftsteller, Journalisten) sich gegenwärtig verändert, darunter eine Umfrage der Vereinigung von Autorinnen und Autoren PEN American Center in New York unter ihren Mitgliedern im Herbst, eine im Frühjahr 2014 veröffentlichte Studie von Harris Interactive Survey sowie ein Bericht der Human Rights Watch und der American Civil Liberties Union (veröffentlicht am 20. Juli 2014), beide ebenfalls aus den Vereinigten Staaten.

Bei der PEN-Umfrage, publiziert unter der passenden Überschrift "Chilling Effects" erklärten 16 Prozent der Befragten, dass sie bestimmte Themen inzwischen bewusst vermeiden, nicht nur im persönlichen Gespräch und in E-Mails, sondern auch in ihren Texten. Es ist anzunehmen, dass die Zahlen in Deutschland ähnlich aussehen würden. Bedenkt man, dass wir erst im Laufe des letzten Jahres unwiderlegbare Beweise für die globale Überwachungsmaschinerie erhalten haben, ist es mehr als bemerkenswert, wie nachhaltig sich diese neue Realität in den Köpfen der Intellektuellen bereits eingenistet hat.

In der Anfang April 2014 veröffentlichen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Harris Interactive Survey gestanden sage und schreibe 47 Prozent der US-amerikanischen Erwachsenen, dass sie ihr Verhalten im Internet verändert haben, seitdem sie von den Programmen der National Security Agency (NSA) wissen. Sie seien seitdem vorsichtiger (man könnte auch sagen ängstlicher) beim Surfen und Kommunizieren. Fast ein Viertel der Befragten misstraut neuerdings der Kommunikationsform E-Mail, weswegen diese Menschen E-Mails seltener und mit größerem Bedacht benutzen.

Erstaunlich unkritisch fiel dar aufhin die Antwort manch eines Post-Privacy-Verfechters aus. So schrieb am 20. April 2014 Kath leen Parker in der Washington Post: "Wenn Sie nicht wollen, dass ihre Worte in der Öffentlichkeit verbreitet werden, beißen Sie sich einfach auf die Zunge. (...) Die drohende Enthüllung zwingt uns dazu, unsere Worte zu bedenken und unsere Gedanken zu redigieren." Die NSA als Gedankencoach, als rhetorischer Lehrer. Es lebe das Regulativ.

Freie Gedanken

Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der die einzig verbliebene Privatsphäre in einer dunklen Ecke des eigenen Gehirns schlummert, so unhörbar wie uneinnehmbar, dass nicht einmal wir selbst uns sicher sein können, ob wir freie Gedanken tatsächlich hegen? Besonders ernüchternd ist der am 28. Juli 2014 erschienene Bericht "With Liberty to Monitor All: How Large-Scale US Surveillance Is Harming Journalism, Law, and American Democracy" ("Die Freiheit, alle zu kontrollieren: Wie weitreichende US-Überwachung Journalismus, Recht und die amerikanische Demokratie gefährdet").

Nach ausführlichen Gesprächen mit Journalisten, Rechtsanwälten und Beamten kommt diese Studie zu dem Schluss, dass die generelle Überwachung einen entscheidenden Pfeiler jeder demokratischen Gesellschaft angreift, die freie Meinungsäußerung, indem die Arbeit von investigativen Reportern schwergemacht, wenn nicht gar verunmöglicht wird, nicht zuletzt weil den sogenannten "Whistleblowern", Gewährsleuten also, die aus dem Inneren des Apparats über geheim gehaltenes Fehlverhalten, über verschwiegene Verbrechen berichten, kaum noch Anonymität garantiert werden kann. Im Gegenteil: Die Obama-Regierung hat alles juristisch nur denkbar Mögliche unternommen, um Whistleblower zu verfolgen, vor Gericht zu bringen, einzuschüchtern. Die Arbeit von Rechtsanwälten ist ebenfalls in vielfacher Weise behindert und gefährdet.

Das ist von zentraler Bedeutung, weil kritische Journalisten und Whistleblower die Einzigen sind, die noch eine demokratische Kontrolle der Geheimdienste ermöglichen. Es handelt sich eh um eine bescheidene öffentliche Draufsicht. Es gibt in den USA, einem Land von mehr als 300 Millionen Einwohnern, nur ein gutes Dutzend Journalisten, die sich hauptberuflich mit den Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten beschäftigen. Einer von ihnen, der Pulitzerpreisträger James Risen von der New York Times, wird seit sechs Jahren drangsaliert, einen Informanten bei der CIA preiszugeben.

Nachdem sein Verfahren alle Instanzen durchlaufen hat, besteht nun die Gefahr, dass er für seine Weigerung, diesen Gewährsmann zu verraten, ins Gefängnis gehen muss. In einem Porträt in der New York Times vom 17. August 2014 weist Risen auf eine bis dato geheim gehaltene staatliche Initiative namens "Insider Threat Program" hin, die das Denunziantentum hochleben lässt, indem sie jeden Beamten verpflichtet, Kollegen und Kolleginnen zu kontrollieren und jeden Verdacht sofort zu melden. "Es ist alles so heuchlerisch", äußert Risen, "viele Leute denken immer noch, es handelt sich bei dieser Sache um ein Spiel oder um nichts mehr als Signale. Sie wollen nicht wahrhaben, dass Obama hart gegen Presse und Whistleblower vorgehen will. Er ist der größte Feind der Pressefreiheit seit einer Generation."

Momentan können wir nur (er)ahnen, wie sich das Verhältnis der User zur digitalen Kommunikation und Informationsbeschaffung weiterhin verändern wird. In letzter Zeit habe ich zweimal erlebt, dass mein Gesprächspartner den Wunsch äußerte, wir mögen unsere Unterhaltung doch im Park bei einem Spaziergang fortsetzen. Subversives befand sich beide Male nicht auf der Tagesordnung. Vielmehr war dies Ausdruck des Bedürfnisses, sich im Widerstand gegen eine allgegenwärtige Übermacht einer gewissen Anonymität zu vergewissern. Nur bedingungslos Ja-Sagende haben nichts zu verbergen. In dem Maße, in dem Anonymität verschwindet, wird auch der Wille zur Enthüllung und Entlarvung verlorengehen. Wir müssen nicht warten, bis wir im Morgengrauen verhaftet werden, um Opfer dieses Systems zu werden — dies begreifen viele alte Dissidenten bzw. Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR, aus Rumänen und Bulgarien nicht, die gelegentlich blauäugig abwiegeln: "Das ist kein Überwachungsstaat. Solange ich nicht befürchten muss, im Morgengrauen in Handschellen abgeführt zu werden ..." Wir werden erst dann zu einem grö ßeren, existenziell notwendigen Widerstand gegen die Übergriffe auf unsere Privatsphäre in der Lage sein, wenn wir begriffen haben, dass Massenüberwachung an sich schon ein repressives Instrument ist.

Völlige Transparenz

Nach der Installierung der Mi krofone hörte die bulgarische Staatssicherheit alle Gespräche mit, die in unserer Großfamilie geführt wurden. Als ich vor einigen Jahren die Abschriften jener Kommunikation durchlas, fiel mir auf, wie verdächtig selbst die banalste Bemerkung meiner Verwandten wirkt, wenn ein Gene ralverdacht wie dichter Nebel
auf den Objekten liegt. Überwachung und Verdacht sind siamesische Zwillinge. So war zum Beispiel eine Unterhaltung über das harmloseste aller Themen, Socken nämlich, vom zuständigen Beamten an einigen Stellen un terstrichen und mit operativen Anmerkungen versehen worden. Verdächtige, die sich über Socken unterhalten, haben entweder etwas zu verbergen oder benutzen eine Geheimsprache. Stets passt sich die Realität der Para-
noia an.

Einer der wichtigsten Aspekte der jüngsten Entwicklungen ist die sichtbar gewordene geheimnistuerische Essenz des Systems. Transparenz ist der größte Feind jener, die vorgeblich die Freiheit verteidigen. Völlige Anonymität seitens des Staates, völlige Transparenz beim Bürger — so lautet das Gebot der Stunde. Es gibt einen entscheidenden Denkfehler in diesem Legitimationskonstrukt. Wer ein so enormes Vertrauen in die positive Wirkung allumfassender Überwachung hat, der müsste diesen Weg konsequent zu Ende gehen, der müsste Nägel mit Köpfen machen, der müsste die Überwachung der Überwachenden veranlassen.

Allmachtsfantasien

Denn eine Paranoia, die selektiv vorgeht, ist keine Paranoia. Was liegt näher, als jenen zu misstrauen, die täglich vermeintliche Subversion bekämpfen und ge legentlich ihre Allmachtsfantasien (allen Geheimdiensten inhärent) ausleben, jenen also, die Pa ranoia als professionelle Kompetenz betrachten. Zumal ihr Verhalten — Geheimniskrämerei, Ausflüchte, Hinhaltetaktik — den Verdacht nährt, sie hätten etwas zu verbergen, was wiederum gemäß der von ihnen selbst postulierten Logik ihre Schuld beweist. Das ist weder ironisch noch lustig gemeint. Wer den Geheimdiensten zugesteht, die Gesellschaft mit allen Mitteln zu überwachen, selbst aber fast gar nicht überwacht zu werden, der traut dem Staat mehr als dem Individuum, der hat das 20. Jahrhundert verschlafen, der ist von jener epidemischen Disposition namens Un tertänigkeit. Oder er lügt hinsichtlich seiner Motive.

Längst geht es nicht mehr um Sicherheit. Die immer noch geführte Diskussion über die Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit ist inzwischen obsolet. Indem der Fokus der geheimdienstlichen Ar beit von klar umrissenen Gefährdungsgruppen wie Terroristen, militärischen Einheiten, Banden, diktatorischen Regimen usw. auf die Allgemeinheit ausgeweitet wurde, musste logischerweise jener Tätigkeitsbereich der geheimen Sicherheitsdienste, der vielen Bürgern und Bürgerinnen akzeptabel erscheint — der Schutz vor konkreten gewalttätigen Bedrohungen, die präzise Einschätzung von Risiken —, vernachlässigt werden. Das ist keineswegs auf den Mist bürgerrechtlicher Feinfühligkeit gewachsen, sondern wird von früheren Sicherheitsexperten wie etwa dem einstigen hochrangigen NSA-Mitarbeiter Bill Binney immer wieder bestätigt. Ginge es tatsächlich um die Sicherheit der Gesellschaft, dann wäre Massenüberwachung das denkbar schlechteste Instrument. Das zeigt die Erfahrung der letzten Jahre. Trotz des größten Sicherheits apparats aller Zeiten sind nicht mehr als eine Handvoll von Terroranschlägen aufgedeckt und verhindert worden, und die meisten von ihnen vor allem wegen einer Beteiligung von V-Männern des FBI (manche würden sagen von Agents Provocateurs). Geht es aber um soziale Kontrolle, wirtschaftlichen Vorteil und machtpolitische Absicherung, dann ergibt die Ausweitung der Überwachung viel Sinn. Auch das erinnert an frühere Zeiten. (Ilija Trojanow, Album, DER STANDARD, 11./12.10.2014)