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Ein Augenmensch, der die Illusionen des Ich erforscht: Patrick Modiano erhielt den Literaturnobelpreis.

Foto: AP/Gallimard

Stockholm - Wenn in Stockholm einmal im Jahr der eine Name fällt, auf den der Literaturbetrieb am meisten wartet, dann rollen zumeist in Sekundenschnelle ganze Zeitrechnungen vor dem geistigen Auge ab. Im Falle des französischen Schriftstellers Patrick Modiano, der am Donnerstag als diesjähriger Nobelpreisträger für Literatur benannt wurde, sind die wesentlichen Jahre 1942, 1968, 1988 und 2010, jedenfalls für den deutschsprachigen Raum.

1942 im Juni fragt in Paris ein deutscher Offizier einen jungen Mann nach der Place de l'Étoile. Der verweist auf seine Brust, auf den Platz für den Stern. Den Judenstern. Es ist die Szene, mit der Modianos Roman Place de l'Étoile beginnt, mit dem er 1968 debütierte. 2010 erschien die deutschsprachige Übersetzung der großen Elisabeth Edl, die auch ein Nachwort beisteuerte, für das dringender Bedarf bestand.

Kern der Überlebenskunst

Denn nur die allerversiertesten Frankophilen und Liebhaber der "capitale de la douleur" werden bis in die Details mit den Lebensverhältnissen während der Nazi-Okkupation vertraut sein, mit all den Schattierungen zwischen Kollaboration und Widerstand, zwischen denen Modiano seinen jüdischen Helden Raphael Shlemilovitch schillern lässt. Einen jüdischen Neurotiker, was niemand Geringerer als Sigmund Freud feststellt.

Modiano war gerade einmal 23 Jahre alt, als Place de l'Étoile erschien. Er schaffte es, durch groteske Verfremdung auf den innersten, schmerzhaften Kern jenes Phänomens zu stoßen, das häufig leichtfertig Überlebenskunst genannt wird. Shlemilovitch ist ein unrühmlicher Bastard, eine anstößige Figur, die nahezu jedes feindselige Klischee über Juden in sich begreift. Das Schuldgefühl der Überlebenden angesichts der Vielzahl der Deportierten ist dafür ein entscheidendes Motiv.

Es war der Auftakt zu einem enorm produktiven Schreibleben, mit mehr als 40 Einzeltiteln, dazu zahlreichen Artikeln, Interventionen und sogar Chanson-Texten. Es war Peter Handke, der 1988 mit seiner Übersetzung von Eine Jugend (Une jeunesse) den wichtigsten Vermittlungsschritt für die deutschsprachige Öffentlichkeit machte.

Autobiografisch geprägt und inspiriert ist wohl das gesamte Werk von Modiano, der 1945 als Sohn eines italienischen Juden und einer flämischen Mutter in Boulogne-Billancourt geboren wurde. Einer der Freunde der Mutter war Raymond Queneau, der avantgardistische Dichter, dessen Zazie in der Metro Vorlage für einen Film von Louis Malle wurde. Queneau und René Char, das waren frühe Inspirationen für Modiano, der aber nach Place de l'Étoile allmählich einen weniger phantasmagorischen Stil suchte.

Er ist keineswegs ein Realist im Sinne des 19. Jahrhunderts, sondern eher ein Impressionist der Sprache, ein sprachlicher Beschwörer des großen literarischen Resonanzraums Paris, wo jede Métro-Station und jede Brücke bedeutsam sind.

Wie für viele Autoren in Frankreich spielt auch für Modiano das Kino eine große Rolle. Er schrieb das Drehbuch zu Louis Malles Lacombe Lucien , in Généalogies d'un crime von Raoul Ruiz trat er als Schauspieler auf, er ließ sich in Cannes in die Jury berufen, war mit dem Drehbuchautor Michel Audiard befreundet, und als die Schauspielerin Anna Karina 1998 einen Roman veröffentlichte, trug Modiano ein Nachwort bei. Vor allem aber spielt das Kino in seinen Texten immer wieder (unausdrücklich oder explizit) eine Rolle. Er ist ein Augenmensch, der Eindrücke in fragile Sätze kleidet. Seine Prosa ist transparent, einmal begann er ein Buch mit zwei Worten, die wie ein Fluchtpunkt seiner Sprache gelten mögen: "Presque rien." Fast nichts.

In dieser Spannung zwischen gekonnter Reduktion und pointierter Zuspitzung spielt sich das Schreiben bei Modiano ab, das fast identisch mit Erinnerungsarbeit als solcher ist. Die Tendenz allen Erinnerns ins Fiktionale, die Möglichkeit, aber auch die Gefahr, sich selber neu zu erfinden, wenn man sich eine Geschichte zuschreibt, die literarische Auflösung des ausgeprägten Individuums in Traditions- und Überlieferungsräume, das sind alles Elemente, die ihn eindeutig als modernen Autor ausweisen.

Spekulatives Erinnern

Literaturwissenschafter sprechen von "spekulativer Erinnerung". Das Schreiben überbrückt bei Modiano den Bruch, dem er als Kind des Jahres 1945, des Jahres null, entkam, weil er zu jung war, um selbst noch etwas von den Jahren davor wissen zu können.

In dem Buch Ein Stammbaum kommt er einer traditionellen Autobiografie am nächsten, er erzählt darin, wie sehr er sich von den Eltern verraten fühlte und wie sehr er in eine Welt der Kultur flüchtete. In Die Gasse der dunklen Läden (1978), für den Modiano den Prix Goncourt bekam, findet sich ein Held, der besonders gut die Abgründe seines Schreibens verkörpert: Guy Roland, Privatdetektiv auf der Suche nach der eigenen Identität. Das Ich ist eine Konstruktion aus Zeugenaussagen, das Schreiben ein Indizienprozess mit dem Ziel, einem Urteil über sich selbst zu entgehen.

Die Republik Österreich kam bei Modiano dem Nobelpreis um zwei Jahre zuvor. 2012 erhielt er den Großen Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur. Das Komitee in Stockholm hat nun befunden, und dies mit guten Gründen: Dieses Werk hat Weltgeltung. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 10.10.2014)