Mangott: "Auch wenn es einen russischen Formel-1-Fahrer gibt, wird das Rennen von der Öffentlichkeit weit weniger wahrgenommen, als die Olympischen Spiele, die über mehr als zwei Wochen täglich inszeniert wurden."

derStandard.at: Am kommenden Wochenende steigt in Sotschi der Grand Prix von Russland. Boykottaufrufe wurden von Formel-1-Zampano Bernie Ecclestone abgelehnt. Er verweist auf bestehende Verträge. Ist es nicht grotesk, dass in der aktuellen spannungsgeladenen politischen Situation ein Grand Prix von Russland stattfindet?

Mangott: Man kann ein Formel-1-Rennen nicht mit Olympischen Spielen vergleichen. Die haben eine ganz andere, auch symbolische Bedeutung. Diese Dimension erreicht ein derartiges Rennen bei weitem nicht. Da kommt ein Rennzirkus, der in vielen Ländern Rennen durchführt, die schwierige Menschenrechtsstandards haben, wenn ich nur an die Golfstaaten denke, in denen diese Rennen ja auch durchgeführt werden. Aber ich glaube nicht, dass man aufgrund eines Formel-1-Rennens eine solch aufgeladene moralische Situation schaffen sollte. Dass dieses Rennen trotz der Spannungen durchgeführt wird, ist auch ein Stück Normalität. Was wir im Augenblick nicht brauchen können, ist eine weitere Eskalation.

derStandard.at: Aber Events wie ein Grand Prix sind doch Teil einer großen Putin-Show, mit der versucht wird, sich die Sportwelt einzuverleiben und Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine zu kaschieren ...

Mangott: Ich glaube nicht, dass das gelingt, ich glaube auch nicht, dass das die große Absicht ist. Sotschi ist für Wladimir Putin ein wichtiger Standort. Nach den olympischen Spielen geht es nun auch um eine Nachnutzung der Anlagen. Das Rennen erfüllt von der öffentlichen Wahrnehmung diese Funktion nicht, wie es die Olympischen Spiele mit Athleten aus der ganzen Welt sehr wohl getan haben. Nämlich den Leuten neues Selbstbewusstsein und den Eindruck zu geben, dass es sich nun der internationalen Öffentlichkeit als ein modernes, gastfreundliches Land präsentiert.

derStandard.at: Kann die Veranstaltung positive politische Nebeneffekte für die Beziehungen zwischen Europa und Russland haben?

Mangott: Nein, das wäre eine völlige Überbewertung eines solchen Ereignisses. Es geht um einen Tross, der sich von Stadt zu Stadt wälzt, jetzt ist er halt erstmals in Sotschi, in der Lieblingsstadt Putins. Aber es wird überhaupt keine politischen Konsequenzen geben. Weder im Inneren Russlands im Sinne einer Stärkung der russischen Führung, noch im Sinne einer Annäherung zwischen Europa und Russland.

derStandard.at: Inwieweit stärken sportliche Großereignisse die Position Putins in Russland?

Mangott: Auch wenn es einen russischen Formel-1-Fahrer gibt, wird das Rennen von der Öffentlichkeit weit weniger wahrgenommen, als die Olympischen Spiele, die über mehr als zwei Wochen täglich inszeniert wurden. Das hat natürlich eine politische Funktion gehabt. Es stärkt Putins persönliches Selbstbewusstsein. Es ist Prestige für ihn und er schätzt es sicher sehr, dass der Formel-1-Zirkus nun erstmals in Russland angekommen ist, aber über die engere Elite hinaus gibt es keine maßgeblichen Konsequenzen für die Stimmung in der Bevölkerung.

derStandard.at: Und welche Auswirkungen hatten die Olympischen Spiele?

Mangott: Die Spiele und auch der Umstand, dass Russland den Medaillenspiegel gewonnen hat, haben sicher dazu beigetragen, dass die Russen stolzer und selbstbewusster sind auf ihr Land. Dass sie sich als Großmacht fühlen, die sich der internationalen Öffentlichkeit exzellent zu präsentieren weiß und dafür auch Respekt einfordert. Die nationale Identität wurde gestärkt. Dafür waren die Spiele innenpolitisch auch gedacht. Und sie hatten sicherlich auch die Wirkung, dass Putin in der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit mit dem Erfolg verbunden wurde. Und das hat natürlich auch zur seiner persönlichen Popularisierung beigetragen.

derStandard.at: Wie groß war die Zustimmung für Olympia in der Bevölkerung?

Mangott: Es stand eine große Mehrheit hinter der Durchführung der Spiele, die Zustimmung lag bei zirka 90 Prozent. Die Spiele wurden als großer Prestigeerfolg gesehen. Es waren die ersten Winterspiele überhaupt in Russland. Natürlich hat man aber auch besonders in der gebildeteren, städtischen Schicht mitverfolgt, wie viel Korruption passiert ist, wie hoch die Ausgaben für die Sportstätten waren. Wie sehr Günstlinge und Freunde Putins Aufträge bekommen haben.

derStandard.at: Wird Putin im Europa schlechter dargestellt, als er es in Wirklichkeit ist? Um die europäischen Interessen zum Beispiel in der Ukraine besser vorantreiben zu können?

Mangott: Was in der westlichen Debatte in der Ukraine-Krise auffällig ist, ist die völlige Überschätzung der Person Putins. Russlands Politik in der Ukraine ist eine Politik, die von vielen geteilt und von Putin angeführt wird. In der politischen Elite, vor allem im Sicherheitssektor, in der Führungselite des Landes. Aber das ist eine Politik, die aus russischer Sicht die nationalen und vitalen Interessen Russlands verteidigt. Zunächst unabhängig von Putin, der natürlich das Gesicht nach außen ist und als Verstärker dieser Politik fungiert.

Aber diese Politik wird nicht nur von ihm bestimmt sondern von sehr vielen geteilt. Deshalb haben auch Versuche einer Dämonisierung seiner Person, wie wir es medial immer wieder festgestellt haben, eines völlig unberechenbaren, vielleicht verrückten, Hitler-ähnlichen, expansionistischen Diktators, nicht wirklich viel mit der Realität in Russland zu tun. Was nichts daran ändert, dass die russischen Aktionen in der Ukraine als das zu bezeichnen sind, was sie waren, eklatante Rechtsbrüche.

derStandard.at: Sie gelten als Russland- und Putin-Versteher. Eine nicht gerade positive Auszeichnung …

Mangott: Ich kann mit Dummheiten gut leben. Wenn jemand meint, dass das Verstehen der Motivlagen, der Interessen und der Wahrnehmung des Gegenübers etwas Schlechtes ist, dann nehme ich das zur Kenntnis. Putin-Apologet wäre übrigens die richtige Bezeichnung. Wenn ich versuche, die andere Seite zu verstehen, dann heißt das nicht, dass ich ihr recht gebe. Ich habe auch persönlich vom Völkerrechtsbruch auf der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine durch Russland gesprochen und auch von einer direkten militärischen Intervention.

Ich glaube, es ist Ausdruck einer zunehmend emotionalisierten Stimmung, dass Leute, die eine differenzierte Sicht auf die Dinge haben, auf der Seite des Gegners gesehen werden. Ich halte dies für eine Verkümmerung des differenzierten Denkens und der differenzierten Interpretation der Wirklichkeit. In der aufgeheizten Stimmung haben wir ein Stück Redlichkeit dringend nötig, die versucht objektiv zu bleiben. (Thomas Hirner, derStandard.at, 9.10.2014)