Der Tumor ist beängstigend groß. "Ein Osteosarkom", sagt Jürgen Debus. Die Geschwulst hat sich am Schädel ausgebreitet, oberhalb der rechten Schläfe. Auf dem Bildschirm ist das wuchernde Gewebe als dunkler Fleck zu erkennen. Der Betroffene liegt derweil auf einem langen Tisch nebenan im Behandlungszimmer. Ein Röntgenapparat scannt seinen Kopf. Das so entstehende Bild wird im Rechner exakt mit einem zuvor erstellten Modell des Tumors und dessen Position verglichen. Eine von Debus' Assistentinnen überwacht den Vorgang. "So stellen wir sicher, dass der Patient richtig liegt", sagt der Arzt. Denn der nächste Schritt erfordert höchste Präzision.
Modernste Technik
Jürgen Debus ist Radioonkologe und wissenschaftlich-medizinischer Leiter des HeidelbergerIonenstrahl-Therapiezentrums, kurz HIT. Die 2009 eröffnete Einrichtung verfügt über die modernste Technik zur Bestrahlung von Tumoren. Unter einem Erdhügel, mitten auf dem Campus der Universität, verstecken sich der Teilchenbeschleuniger und die sogenannte Gantry, ein Metallkoloss von fast biblischen Ausmaßen. Mit 670 Tonnen Gewicht, 25 Meter Länge und 13 Meter Höhe ist sie weltweit die größte ihrer Art.
Dank dieser gewaltigen Maschine können die HIT-Experten Krebsherde aus praktisch jeder erdenklichen Richtung bekämpfen. Das hat erhebliche Vorteile, wie Debus erläutert. Das Osteosarkom bei dem sich gerade in Behandlung befindenden Patienten zum Beispiel reicht bis knapp an einen der Sehnerven heran. Dessen neuronales Gewebe ist äußerst empfindlich. Hier darf die Strahlung keinesfalls eindringen. Die Gantry macht es möglich, die Teilchen präzise an solchen sensiblen Bereichen vorbeizuschicken und die zerstörerische Strahlenwirkung exakt auf den Tumor zu begrenzen. Ein enormer Fortschritt.
Am HIT kommen sowohl Protonen, also Wasserstoff-Atomkerne, wie auch verschiedene andere Ionentypen zum Einsatz. Damit sie ihre volle Kraft entfalten können, werden diese Teilchen auf bis zu 80 Prozent Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Zur Lenkung von derart schnellen Partikeln braucht es mächtig große Elektromagneten. Daher die Größe der Gantry.
Schonende Zerstörung
Der therapeutische Vorteil von Ionen und Protonen gegenüber herkömmlichen Bestrahlungen ist ihr Gewicht. Wenn sie in beschleunigtem Zustand in eine Tumorzelle eindringen, setzen sie dort viel mehr Energie frei als die meistens verwendete Gammastrahlung, die praktisch keine Masse aufweist. Das eigentliche Ziel dabei ist das Erbgut im Zellkern. Die Wucht der einschlagenden Teilchen verursacht Brüche in den DNA-Strängen. Die Schäden entstehen auf engstem Raum, sodass ganze Gene de facto zertrümmert werden - mit fatalen Folgen für die Krebszelle.
Bei der Bestrahlung mit Ionen machen sich die Mediziner auch den sogenannten Bragg-Peak zunutze. Dieser nach seinem Entdecker William Henry Bragg genannte physikalische Effekt tritt auf, wenn die Teilchen nach dem Eindringen im Körper abgebremst werden. Die Energie wird nicht gleichmäßig, sondern erst kurz vor Stillstand fast vollständig freigesetzt. Das erhöht die Wirkung ungemein und schont zudem das umliegende gesunde Gewebe.
Um den Bragg-Peak gezielt einsetzen zu können, ist minutiöse Planung erforderlich. Jeder am HIT behandelte Tumor wird zuvor exakt vermessen und als Modell im Rechner erfasst. Die anschließende Bestrahlung erfolgt scheibchenweise, in Schichten von einem bis vier Millimeter Dicke. Für jeden dieser Sektoren muss die Energie der Strahlung individuell eingestellt werden. Radioonkologe Debus zeigt auf einen der Monitoren im Steuerungsraum.
Die Behandlung des Osteosarkompatienten hat soeben begonnen, die erste Schicht der Geschwulst ist bereits bestrahlt worden. Die Assistentin erhöht von 118 auf 125 MeV/u (Megaelektronenvolt per unit, Anm.). Etwas mehr Energie für den nächsten, etwas tiefer liegenden Bereich. Auf die genaue Dosierung kommt es an.
Bedrohung und Freund
Szenenwechsel. Im Bestrahlungsraum fühlt man sich sofort wie in einen Science-Fiction-Film: leuchtend weiße Wände, ein blanker Tisch und mysteriös anmutende Apparaturen. Schüchtert eine solche Umgebung Patienten ein? Nein, sagt Debus. Es gebe da unterschiedliche Wahrnehmungen. Auf gesunde Menschen wirke das Maschinelle in der Tat oft bedrohlich, erklärt der Facharzt. "Der Patient dagegen empfindet die Technik eher als Freund." Aus gutem Grund. Die moderne Strahlentherapie löst kaum noch Nebenwirkungen aus. Die mittlere Bestrahlungsdauer beträgt sieben Minuten pro Sitzung, etwa die gleiche Zeit wird für das vorherige Positionieren benötigt.
Es treten auch keine Schmerzen auf, betont Debus. Dennoch fürchten sich manche. Bei schwierigen Bestrahlungen im Kopfbereich muss das Haupt des Behandelten mittels einer Maske fixiert werden. Sonst wäre die Zielgenauigkeit nicht gewährleistet. Einige Patienten haben Angst vor dieser Enge. Durch genaues Erklären des Vorgangs jedoch lassen sich die allermeisten ermutigen, wie Debus berichtet. "Das geht sehr gut, selbst bei kleinen Kindern." Von den rund 2000 bisher am HIT therapierten Kranken brauchten erst zwei eine Vollnarkose. Das Zentrum dient nicht nur der medizinischen Versorgung, sondern auch der Forschung. "Die Mehrzahl der Patienten wird im Rahmen von klinischen Studien behandelt", sagt Debus. Ein Drittel kommt aus dem Ausland.
Besonders interessant sei das Projekt zum Vergleich der Wirkung von Protonen und Kohlenstoffionen auf Chordome an der Schädelbasis. Diese seltenen, langsam wachsenden Tumoren entstehen aus Wirbelsäulengewebe und sind aufgrund ihrer Nähe zum Gehirn schwierig zu behandeln. Die Bestrahlung mit Protonen gilt inzwischen als Standardtherapie, doch der Einsatz der besonders schweren Kohlenstoffionen könnte sich als wirkungsvoller erweisen. Bislang sind 50 Chordompatienten als Studienteilnehmer registriert, weitere Probanden werden noch gesucht. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 10.10.2014)