Es ist ungemütlich geworden in Europa. Um Europa. Und wir hatten uns doch schon eingerichtet auf Atomwaffenabbau, Abbau der Grenzkontrollen, Abbau alter Feindschaften, über den riesigen Gräberfeldern zweier Weltkriege reichten Repräsentanten ehemals sich bekriegender Völker einander die Hände und meinten den Händedruck, wie es aussah, auch ernst. Die EU, das Friedensprojekt, das den seit Jahrhunderten zerrissenen Kontinent eint, sollte uns ins 21. Jahrhundert tragen und begleiten, unsere Kinder und Kindeskinder in Frieden und Wohlstand aufwachsen lassen.

2014: 100 Jahre seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs, 75 Jahre nach Ausbruch des Zweiten, 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs: Immer folgte den Einschnitten eine Neuordnung Europas, immer flammte Hoffnung auf, auf Frieden, auf ein neues Miteinander, auf offene Grenzen, auf Abbau der Waffenarsenale. Ich war zwölf, als der Staat Israel gegründet wurde. Eine späte Antwort auf Theodor Herzls Traum.

Herzl starb vor 110 Jahren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, er konnte nicht ahnen, dass zwei Weltkriege tiefe, kaum zu heilende Wunden in dieses Jahrhundert schlagen sollten und dass unter dem Gefechtslärm des Zweiten der Weltkriege ein Menschheitsverbrechen zur Institution erwuchs: der Holocaust, die Shoah. Der Kulturbruch. Kulturzusammenbruch. - Und seine Hoffnung, mit Errichtung eines Staates für die Juden wäre der Antisemitismus wohl gebannt, würde verschwinden, blieb, wie wir wissen, mehr als unerfüllt.

Die alte kranke und krankmachende Giftpflanze Antisemitismus hat sich nach 1945 nur ein bisschen geduckt, aber überlebt. Wabert mal unter, dann über diversen Stammtischen, in einschlägigen Kellern und Publikationen, manifestiert sich mit oder ganz ohne Juden, spielt ein bisschen mit der Auschwitzlüge, vermischt sich mit Neonazismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und lässt sich erbärmlicherweise nicht ausrotten.

Scharfmachersalz

Aufklärer und Differenzierer haben es schwer gegen diesen Kochtopf, in den man so lustvoll alles zusammenschmeißen kann, Israel und Gaza, die Muslime mit oder ohne Kopftuch, die eigenen Benachteiligungsängste und die fremde Bedrohung, Frustration von rechts, links, der Mitte, und die Demokratie verkocht in diesem Gebräu. Und die scheinbar unkontrollierbare vernetzte Hetze im Internet streut noch anonymes Scharfmachersalz drüber und hält das Ganze am Köcheln. Brüchige Waffenstillstände, eingefrorene Konflikte, besorgte Deeskalationsversuche halten einander die Daumen, aufgeschreckt jettet die Diplomatie von einem Brandherd zum nächsten, Luftschläge, Bodentruppen ja oder nein oder nur ein bisschen, die Waffenschmiede hat Hochkonjunktur, Mauerbauten und Stacheldrahtzäune sind angedacht am Rande Europas, 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer. Lieber Friede, weit hast du's gebracht!

Leichen ausgraben

Heute, am 9. Oktober, ist Oskar Schindlers 40. Todestag. Steven Spielbergs Film Schindler's List wird ihm Rahmen dieses Festivals gezeigt. Als der Film vor 20 Jahren seine Österreichpremiere hatte und die Lichter im Kinosaal angingen, stand Simon Wiesenthal auf und sagte: "So war es. Wir mussten die Leichen wieder ausgraben, um sie zu verbrennen." Keine Zeugen des Massenmords sollten bleiben, falls sich Hitlers Endsieg doch nicht einstellen sollte.

Schindler, Fabrikbesitzer, trinkfester Schwarzhändler, Frauenheld, stets im Maßanzug, nie in Uniform, in welcher er wohl wie die Inkarnation eines SSlers ausgesehen hätte, groß, blond und blauäugig und selbstbewusst, wie er war. Mit Amon Göth, dem berüchtigten Kommandanten des Lagers Krakau-Plaszow per Du, feierte er mit den SS-Leuten, spendierte ihnen Cognac und Zigaretten, um sie bei Laune zu halten. Kaufte statt einer (arisierten) Textilfirma einen metallverarbeitenden Betrieb, der als "siegentscheidend" und nicht nur kriegswichtig eingestuft wurde. Man bemerke den Unterschied: Für die "Schindler-Juden" bedeutete er überleben oder nicht.

Das bezeugt der Lagerhäftling Mietek Pemper, der als persönlicher Stenograf des Massenmörders Göth von März 1943 bis September 1944 im KZ Krakau-Plaszow Tag und Nacht zu Schreibarbeiten eingesetzt war. Er verschaffte sich in dieser Stellung geheime Informationen, die es Schindler erst ermöglichten, die Rettung von mehr als tausend dem Tod geweihten Häftlingen ins Werk zu setzen. Dank seiner Einblicke konnte Schindler die berühmte Liste schreiben lassen. Eine Zivilcourage sondergleichen, unter ständiger Todesbedrohung Göths, der schießwütig wahllos tötete, auf der Lagerstraße, im Büro, in den Krankenrevieren, ein ehrgeiziger Massenmörder, übrigens ein Wiener.

Schindler, Gerechter unter den Völkern, starb 1974 krank und vereinsamt in Hildesheim. Pemper war nach dem Krieg aussagender Zeuge in Kriegsverbrecherprozessen. Er war Hauptzeuge der Anklage gegen Göth, der beim Lesen der letzten Seiten seiner Anklageschrift, auf der die Belastungszeugen aufgelistet waren, wörtlich aufgerufen haben soll: "Was? So viele Juden? Und uns hat man immer gesagt, da wird kein Schwanz übrigbleiben!" "Diese ordinäre Formulierung", schreibt Pemper, "wird mir unvergesslich bleiben, gibt sie doch in meinen Augen einen Hinweis darauf, warum Göth und andere so hemmungslos brutal handelten. Sie taten es in der Gewissheit, mangels überlebender Zeugen niemals zur Rechenschaft gezogen zu werden." Göth bekannte sich nicht schuldig. Die Vollstreckung des Todesurteils durch den Strang erfolgte im September 1946 auf polnischem Boden.

Etwa 1200 "Schindler-Juden" entgingen dem sicheren Tod. Als der Krieg zu Ende war und die Rote Armee vor den Toren stand, wollte sich Schindler erst gar nicht nach dem Westen absetzen und bei "seinen" Juden bleiben. Sie mussten ihn überreden, abzuhauen. Sie gaben ihm einen Schutzbrief mit, in Hebräisch, Englisch und Russisch. Ein alter Jude opferte sein Zahngold für einen Ring für Schindler mit einem eingravierten Spruch aus dem Talmud: "Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt."

Mir war es wichtig, neben der strahlenden Heldenfigur Schindler an den blutjungen Lagerstenografen Pemper zu erinnern, ohne dessen Mut unter ständiger Todesbedrohung die berühmte Liste wohl nicht hätte getippt werden können. Seine Haltung als Zivilcourage zu bezeichnen ist wohl mehr als untertrieben.

Hohe Tugend

Zivilcourage. Ich bin versucht, sie pathetisch eine hohe Tugend zu nennen. Ein mit Leuchtschrift markierter Posten im Kanon der Wertegemeinschaft. Sie wird nicht unterrichtet. Sie ist auch nicht angeboren. Sie will geübt sein, ausgeübt. Zum Beispiel wenn sich ein paar Mutige zusammentun und gegen den ablehnenden Aufschrei einer ganzen Gemeinde etwas Leerstehendes für Flüchtlinge bereitstellen.

Denn ein Heer von Flüchtlingen macht sich auf, eine neue Völkerwanderung brandet gegen die Festung Europa, die erschrocken die Zugbrücke wieder hochzuziehen versucht, die doch eigentlich heruntergelassen bleiben sollte, offen für Handel und Wandel und neue Nachbarschaften. Millionen sind auf der Flucht, und es werden monatlich, täglich, ja stündlich mehr. Sie fliehen vor Kriegen. Es werden ja wieder vermehrt Kriege geführt. Bürgerkriege, heilige Kriege und die, welche noch keinen Namen haben. Man zieht auch wieder in den Krieg. Halbe Kinder muss man davon abhalten. Wir sehen die Flüchtlingsströme, fast täglich sehen wir sie über die Bildschirme unserer Nachrichtensender ziehen, ganze Familien mit den Kleinsten der Kinder auf den Armen, in der freien Hand ein Bündel, sonst nichts. Und wir starren hin, gehen spenden und atmen in vollen Zügen die Luft der Sicherheit und Freiheit. (Elisabeth Orth, DER STANDARD, 9.10.2014)