Manuela Kovalev erforscht obszöne Sprache in der russischen Literatur.

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Die russische Sprache genießt den Ruf, über besonders deftige Kraftausdrücke zu verfügen. Zugleich ist die obszöne Sprache, genannt "Mat", in Russland tabuisiert, und zwar so stark, dass im Juli eigens ein Gesetz erlassen wurde, um den Gebrauch von Kraftausdrücken in Öffentlichkeit und Kunst zu reglementieren.

Die Russistin und Translationswissenschaftlerin Manuela Kovalev hat sich im Rahmen ihrer Dissertation an der Universität Manchester mit dem Gebrauch von "Mat" in spätsowjetischer und postsowjetischer Literatur auseinandergesetzt. Mit daStandard.at sprach sie über die Funktion der obszönen Sprache in Kunst und Alltag.

daStandard.at: Was bedeutet "Mat"?

Kovalev: "Mat" kommt von der russischen Bezeichnung "mat’" für Mutter und bezeichnet den Mutterfluch. Es ist der Überbegriff für alles Unanständige, Obszöne und Schmutzige in der russischen Sprache. Sprachwissenschaftlich gesehen gibt es verschiedene Ansätze. Manche sagen, Mat umfasst nur jene Wörter und Phrasen, die wirklich das Wort "mat" enthalten, also den Mutterfluch. Es gibt jedoch auch Wörter, die rein von der Bedeutung her nichts Obszönes an sich haben, aber trotzdem von den meisten Russen als Mat-Wort eingeordnet werden.

daStandard.at: Auch im Deutschen gibt es Schimpfwörter, die von ihrer Bedeutung her sehr derb sind oder "nicht jugendfrei", wie man sagen würde. Jede Sprache scheint zu glauben, ihre Kraftausdrücke seien besonders schlimm, dennoch beansprucht das Russische in diesem Zusammenhang einen Sonderstatus für sich. Für viele Russen ist Fluchen ein absolutes Tabu. Liegt das daran, dass die Kraftausdrücke besonders obszön sind, oder hat es andere Gründe?

Kovalev: Der Diskurs rund um den "Mat" weist dieselben Muster auf wie die Diskussion um die russische Sprache an sich. Es gibt da einen Anspruch, einzigartig, "unique" zu sein. Linguistisch betrachtet gibt es den Mutterfluch aber in anderen Sprachen auch, etwa im Englischen.

daStandard.at: "Motherfucker"?

Kovalev: Genau. Das Besondere an der russischen obszönen Sprache ist eigentlich dieser Anspruch darauf, etwas Besonderes zu sein. Auch die russische Sprache wird von Schriftstellern gerne als einzigartig und reich dargestellt, und analog dazu heißt es auch, die obszöne Sprache sei besonders schlimm.

daStandard.at: Hält ein solcher Anspruch einer linguistischen Analyse stand?

Kovalev: Linguistisch betrachtet sind die Wörter, also die Ausdrücke an sich nicht schlimmer als in anderen Sprachen. Aber natürlich hat die Tabuisierung oder der Diskurs, der darüber geführt wurde, dazu geführt, dass der Grad der Tabuisierung sehr hoch ist, höher als etwa in unserer Kultur. Die Kernbegriffe dafür sind "styd" (Scham) und "strach" (Angst).

daStandard.at: Was bedeutet das für die Literatur?

Kovalev: Viele Gulag-Schriftsteller, die zur Intelligenzija gehörten, verwendeten häufig absichtlich keine obszöne Sprache, obwohl sie den Versuch machen wollten, einen narrativen, starken Text zu verfassen. Aber die obszöne Sprache war viel zu sehr behaftet mit "ungebildet". Die Tabuisierung war groß, und solche Elemente vermied man in seinen Werken. Solschenizyn hat eigene Wörter erfunden, die zwar keinen Zweifel darüber lassen, welche Wörter er meint, aber die obszönen Wörter wählte er bewusst nicht, und er äußerte sich auch kritisch zu allzu expliziten Übersetzungen.

daStandard.at: Heutzutage ist der Mat aber durchaus ein gängiges Stilmittel in der Gegenwartsliteratur.

Kovalev: Der sowjetische Zugang war eben sehr puristisch, und alles, was mit Sexualität zu tun hatte, wurde zensuriert, sogar Wörter, die nur so klingen wie bestimmte Mat-Wörter. Der Mat selbst hatte nichtsdestotrotz eine starke Bedeutung als ein Gegenpol, als etwas, das die Normen durchbricht. Dissidenten und Emigranten sahen im Mat ein Protestmittel, und später wurde es dann auch zu einer Möglichkeit, über Sexualität zu sprechen. Im Postmodernismus hat Mat noch immer eine große Bedeutung als Normbrecher. Die obszöne Sprache zeigt Grenzen auf.

daStandard.at: Derzeit wird wieder versucht, den Mat gesetzlich zu regulieren. Ist das ein Rückgriff auf die sowjetische Zensur?

Kovalev: Sprachpurismus ist meist der unbewusste Versuch, alles zu regeln, zu reinigen und von oben zu verordnen. Die Zensur im heutigen Russland kann man sicherlich nicht gleichsetzen mit sowjetischer Zensur, aber es ist natürlich ein Schritt weg von der Vielfalt und der Diversität, die ja ein wichtiges Merkmal jeder demokratischen Gesellschaft sind.

daStandard.at: Sind solche Bestrebungen rechtlich tatsächlich umsetzbar?

Kovalev: Das ist eine andere Frage. Aber auf jeden Fall steckt dahinter der Wunsch, Dinge zu normieren und zu kontrollieren. Man kann die obszöne Sprache nicht ausrotten, selbst wenn man einzelne Wörter verbietet. Es sind ja nicht die Wörter selbst, diese lassen sich ja durch andere ersetzen. Auch die Sache an sich, also die Körperfunktionen, ist nicht tabu, sondern es geht darum, was man als obszön oder tabuisiert begreift.

Ein anderer Aspekt ist, dass Zensur immer auch Mechanismen von Selbstzensur in Gang setzt.

daStandard.at: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich mit diesem Thema wissenschaftlich auseinanderzusetzen?

Kovalev: Das war eigentlich ein Zufall. Ich war vor Jahren mit einer Gruppe von Russen unterwegs, Musiker und alternative Leute. Ich hatte damals gedacht, mein Russisch sei auf einem relativ guten Niveau. Aber die Leute verwendeten Wörter, die ich nicht verstehen konnte, und als ich nachfragte, was das sei, antworteten sie, das sei "die echte russische Sprache". Ich konnte zunächst nichts damit anfangen, weil das alles in meiner Ausbildung komplett ausgeklammert worden war. Daraufhin fing ich an, selbst zu recherchieren, und fand heraus, dass die obszöne Sprache im Kontext der Literatur noch nicht untersucht worden war. Ich fand diese Schnittstelle zwischen Literatur und obszöner Sprache sehr spannend. Literatur genießt ja einen hohen Stellenwert in Russland, und diese Verbindung von etwas Erhabenem einerseits und etwas Obszönem andererseits fand ich interessant. (Mascha Dabić, daStandard.at, 8.10.2014)