Istanbul - Die türkischen Behörden haben nach eigenen Angaben an der Grenze zu Syrien Hunderte aus dem Bürgerkriegsland kommende Kurden festgenommen. Die 265 Festgenommenen würden zur Feststellung ihrer Identität festgehalten, sagte ein Behördenvertreter in der türkischen Grenzstadt Suruc am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP.

Die Türkei sorgt sich vor einem länderübergreifenden Bündnis zwischen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und den vor allem in Syrien aktiven kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG). Kämpfer beider Gruppen verteidigen derzeit die grenznahe syrische Kurdenstadt Kobanê gegen Kämpfer der Jihadistenorganisation "Islamischer Staat" (IS). "Wer jetzt noch von der anderen Seite der Grenze herüberkommt, gehört entweder zur PKK oder zu YPG", sagte der Behördenvertreter.

Ein Kurdenvertreter aus Kobanê, Idris Nassan, sagte der AFP, in der Nacht zum Mittwoch seien 350 Zivilisten aus Kobanê bei der Überquerung der Grenze vom türkischen Geheimdienst festgenommen worden. Demnach werden die Flüchtlinge in zwei Schulen in Suruc festgehalten und drohen mit Selbstverbrennung, sollten sie nicht freigelassen werden

18 Tote in der Türkei

Bei den Protesten gegen die Tatenlosigkeit der türkischen Regierung angesichts der drohenden Eroberung Kobanês durch die IS wurden in der Türkei mindestens 18 Menschen getötet. Viele weitere wurden laut Medienberichten bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei, aber auch mit Islamisten, verletzt.

Der UN-Syrien-Vermittler Staffan de Mistura forderte die Welt eindringlich zur Hilfe bei der Verteidigung der seit Tagen umkämpften Grenzstadt auf, und die Türkei appellierte an die USA, verstärkte Luftangriffe auf die IS in Syrien zu fliegen.

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Demonstranten in Istanbul.
Foto: EPA/ERDEM SAHIN

Vorwurf der Tatenlosigkeit

Die Demonstranten in zahlreichen mehrheitlich von Kurden bewohnten Städten im Südosten der Türkei werfen der Regierung vor, dem drohenden Fall Kobanês tatenlos zuzusehen. Das Parlament hat zwar den Einsatz der Armee in Syrien und dem Irak genehmigt, doch hat die Regierung von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu bisher keine militärische Intervention gestartet. Die Kurdenpartei HDP hatte deshalb zu den landesweiten Protesten am Dienstag aufgerufen, tausende Menschen folgten dem Aufruf.

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Ausgebranntes Auto in Diyarbakir im Südosten der Türkei.
Foto: EPA/SERTAC KAYAR

Allein in der südöstlichen Großstadt Diyarbakir seien acht Demonstranten getötet worden, berichtete die Zeitung "Hürriyet" am Mittwoch. In der Kurdenhauptstadt gab es Zusammenstöße mit der Polizei, aber auch mit Anhängern der islamistischen Partei Huda-Par. Ein Vertreter der Sicherheitskräfte bestätigte die Presseberichte zur Opferzahl. Ein Polizeifahrzeug, weitere Autos, Geschäfte und Regierungsgebäude wurden in Brand gesteckt oder anderweitig beschädigt. Mindestens drei Tote wurden aus Mardin gemeldet, zwei aus Siirt sowie jeweils einer aus den Städten Batman und Mus.

In den kurdischen Provinzen Diyarbakir, Mardin, Siirt und Van wurde eine Ausgangssperre verhängt. Die Polizei setzte in Istanbul und Ankara Tränengas und Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein. Proteste gab es auch in der Küstenstadt Antalya sowie in Mersin und Adana im Süden.

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Foto: Reuters/Orsal

Ankara fordert Rückzug der Demonstranten

Die türkische Regierung rief zu einem sofortigen Ende der gewalttätigen Demonstrationen auf. "Wir werden keine Toleranz gegenüber gewalttätigen Protesten oder Vandalismus zeigen", sagte der stellvertretende Ministerpräsident Yalcin Akdogan nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu.

Kurden-Demonstrationen in Europa

Nicht nur in der Türkei, sondern auch in zahlreichen Städten Österreichs, Deutschlands, Frankreichs und Belgiens gab es in den vergangenen Tagen prokurdische Proteste. Mehrere Dutzend kurdische Demonstranten drangen am Dienstag in das Europaparlament in Brüssel ein. Nachdem sich mehrere Abgeordnete mit ihnen zu Gesprächen getroffen und Parlamentspräsident Martin Schulz einer Delegation seine Unterstützung gegen die Jihadisten zugesagt hatte, zogen sie wieder ab.

In Dornbirn versammelten sich am Dienstagabend rund 20 Kurden zu einer Sitzkundgebung in der Eingangshalle des ORF Vorarlberg. Dort hätten sie rund 45 Minuten ausgeharrt, bevor sie das Gebäude wieder verließen, hieß es. Die Demonstration sei ruhig verlaufen. In Wien, Bregenz, Innsbruck und Graz kamen am Montagabend teils mehrere hundert Menschen zu Kundgebungen zusammen. In Innsbruck wurde die Parteizentrale der Tiroler SPÖ kurzzeitig besetzt.

Straßenschlacht in Hamburg

In Hamburg wurden bei einer Straßenschlacht mehrere Menschen verletzt. Wie ein Polizeisprecher am Mittwoch sagte, hatten sich nach einer Demonstration gegen die IS etwa 400 Kurden in der Nähe einer Moschee versammelt. Dort stellten sich ihnen am Dienstagabend etwa 400 "radikale Muslime" entgegen. Dabei habe es sich mutmaßlich um Salafisten gehandelt. Zwischen einigen Mitgliedern der beiden Gruppen gab es "gewalttätige körperliche Auseinandersetzungen", die Polizei habe Wasserwerfer eingesetzt. In Berlin, Bremen, Bonn, Düsseldorf, Hamburg, Hannover, Kiel und Stuttgart kamen am Montagabend und Dienstag teils mehrere hundert Menschen zu Kundgebungen zusammen.

Nahe dem Präsidentensitz in Paris versammelten sich rund 200 Kurden zu einem Sitzstreik, bevor am Abend etwa 500 Demonstranten am Außenministerium vorbeizogen. Weitere Protestmärsche mit hunderten Teilnehmern gab es in Marseille, Toulouse und Bordeaux. Dabei gab es in Toulouse Zusammenstöße mit der Polizei, die Tränengas einsetzte. In Marseille wurden vor dem türkischen Konsulat 15 Demonstranten festgenommen. (APA/Reuters, 8.10.2014)