Die Mode der 1970er-Jahre ist ihm zu romantisch. Dafür liebt Nicola Formichetti den exzessiven Stil der 1980er umso mehr.

Foto: Diesel

Das Bild des Modemachers hat sich geändert: Statt mit Schere und Nadel werkt er heute mit Maus und iPhone. Manche nennen sich noch Designer, andere wie Nicola Formichetti (geb. 1977) Artistic Director. Aufgewachsen zwischen Italien und Japan, pendelt er zwischen New York, London, Mailand und Tokio. Er stylt Promis, verantwortet Modestrecken und ist nebenbei auch noch für die Ästhetik des italienischen Jeansgiganten Diesel zuständig. Zuvor arbeitete Formichetti für das französische Modehaus Mugler. "Mr. Digital" wird er in der Branche genannt, weil er wie niemand sonst die Möglichkeiten des Webs für seine Zwecke nutzt. Wir treffen ihn an einem heißen Sommertag in einem Hotel in Triest, wo er einer Jury für Nachwuchsdesigner vorsitzt.

STANDARD: Was muss ein Modedesigner heute können?

Formichetti: Das Wichtigste ist, ein netter Mensch zu sein, bescheiden zu sein. Das bringt einen wirklich weiter, weil man in diesem Job mit vielen Menschen arbeiten muss. Das geht leichter, wenn man keine Zicke ist.

STANDARD: Das allein kann es aber nicht sein, oder?

Formichetti: Wenn ich Mitarbeiter aussuche, schaue ich genau darauf. Ich bin nämlich überzeugt, dass jeder seinen Weg macht, wenn man ihn nur unterstützt.

STANDARD: Wer hat Sie unterstützt?

Formichetti: Ich musste selbst meinen Weg gehen. Wichtig ist, dass man seine Visionen kommunizieren kann. Das ist sogar noch wichtiger als die Visionen selbst. Als Designer kann man sich heute nicht mehr hinter dem Vorhang verstecken, man steht davor.

STANDARD: Sie entwerfen Kollektionen, können aber nicht einmal nähen.

Formichetti: Moment einmal, natürlich kann ich nähen! Die Leute wissen das nur nicht. Ich bin vielleicht kein Fachmann, aber ich kann sowohl nähen als auch zeichnen. Meine Mutter hat es mir beigebracht. Ich halte wenig von Schulen. Heute geht es nicht mehr nur um das Design, sondern darum, wie man sich darstellt, wie die Entwürfe mit einem selbst zusammenhängen, wie man sich verkauft.

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Lady Gaga im berühmten Kleid aus Fleisch.
Foto: reuters/anzuoni

STANDARD: Wie hängen Ihre Entwürfe mit Ihnen zusammen?

Formichetti: Ich meditiere viel. Sauge alles auf, was mich umgibt.

STANDARD: Sie haben die Ästhetik der Achtziger der heutigen Internetgeneration schmackhaft gemacht.

Formichetti: Ich bin 1977 geboren, die Achtziger sind mein Ding. Ich liebe Exzesse. Das gibt mir viel. Die Siebziger waren mir zu romantisch.

STANDARD: Die Londoner Clubszene hat Sie zu dem gemacht, was Sie heute sind?

Formichetti: Dort habe ich alle kennengelernt. Das war meine Schule. Heute ist es die Welt der sozialen Netzwerke. Tumblr. Instagram. Twitter. Diese unendlichen Möglichkeiten, die sich in der digitalen Welt bieten, bringen mich weiter. Die Leute, die ich dort kennenlerne.

STANDARD: Wie viel Zeit verbringen Sie täglich im Netz?

Formichetti: Die Hälfte der Zeit bin ich sicher online.

STANDARD: Wie lässt sich in der digitalen Welt das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden? Man wird von der Fülle der Informationen geradezu überrollt.

Formichetti: Ich verhalte mich dort nicht viel anders, als wenn ich ein Buch lese oder wenn ich in eine Ausstellung gehe. Das, was mich interessiert, das sauge ich auf. Derzeit sind das die Welten der Zehn-, Elf-, Zwölf-, Dreizehnjährigen.

STANDARD: Wie bitte?

Formichetti: In diesem Alter werden die neuen Technologien absolut selbstverständlich genutzt. In dieser Generation ist man mit ihnen aufgewachsen.

STANDARD: Ja, aber was bringt Ihnen das inhaltlich?

Formichetti: Instagram zum Beispiel: In diesem Alter ist es derzeit angesagt, weniger Follower, weniger Likes zu haben. Man kommuniziert im Privaten. Die Qualität der Kontakte ist ausschlaggebend, nicht die Quantität.

STANDARD: Genau so war die Modewelt früher organisiert: Man setzte auf Exklusivität, nur wenige Leute bekamen eine Einladung zu Modeschauen, früher einmal war sogar Fotografieren verboten.

Formichetti: Vielleicht geht die Entwicklung wieder in diese Richtung. Dadurch, dass die Modewelt heute für jeden zugänglich ist, hat sie viel von ihrem Reiz verloren. In dem Moment, in dem die Kollektionen in den Geschäften hängen, interessiert sich kaum mehr jemand dafür.

Look aus der Herbst/Winter-Kollektion von Diesel.
Foto: Diesel

STANDARD: Als Sie Ihre erste Kollektion für Diesel in Venedig zeigten, wollten Sie ein Fotografier- und Handyverbot durchsetzen.

Formichetti: Die Presseleute sind fast in Ohnmacht gefallen. Dabei wollte ich doch nur, dass sich die Leute die Show anschauen und sich nicht hinter ihren Smartphones verstecken.

STANDARD: Das passt überhaupt nicht zu dem Ruf, den Sie in der Modewelt genießen. Jenen des Mr. Digital.

Formichetti: Ich bin ein Punk, schwimme gegen den Strom. Derzeit weiß keine Modefirma, wohin die Entwicklungen führen werden. Wir wollen die Ersten sein, die alle technologischen Möglichkeiten ausprobieren.

STANDARD: Zum Beispiel?

Formichetti: Momentan spielt sich doch alles nur im Bereich des Marketings ab. Nur weil man als Unternehmen einen Instagram-Account hat oder eine Modeschau in 3-D inszeniert, heißt das noch lange nicht, dass man in der digitalen Welt angekommen ist. Von Zehnjährigen habe ich gelernt, wie das Analoge und das Digitale selbstverständlich ineinandergreifen. Und das möchte ich auch in der Mode umsetzen. Wie, weiß ich noch nicht.

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Brooke Candy, für deren Outfits Nicola Formichetti verantwortlich ist.
Foto: apa/epa/michael nelson

STANDARD: Stimmt es, dass Sie noch nie etwas im Internet gekauft haben?

Formichetti: Doch, gerade eben zum ersten Mal. Auf Amazon habe ich für meine Hunde Stufen gekauft, die man vor das Sofa stellen kann.

STANDARD: Warum kaufen Sie nichts im Internet?

Formichetti: Ich bin viel analoger, als viele denken. Ich liebe es, im Internet zu surfen, aber es geht doch nichts über das Einkaufserlebnis in einem echten Geschäft.

STANDARD: Wie kommt es, dass Sie in der Modewelt als der digitale Gottseibeiuns gelten?

Formichetti: Ich weiß es nicht. Vielleicht weil ich weniger Angst vor der Zukunft habe als andere. Als ich bei Mugler arbeitete, stellte sich die Frage, wie können wir auffallen, ohne dafür ein Vermögen auszugeben? Die sozialen Netzwerke kosten nichts, also nutzen wir deren Möglichkeiten. Meine letzte Werbekampagne habe ich mit Nick Knight mit dem iPhone geschossen.

STANDARD: Als Sie bei Mugler anfingen, erregten Sie viel Aufsehen. Dieses hat bald nachgelassen. Was ist passiert?

Formichetti: Das Geld fehlte, eine gute Kollektion zu erstellen. Irgendwann werde ich erzählen, wie wenig Geld wir insgesamt zur Verfügung hatten. Ich war für zwei Jahre dort, das hat gereicht.

STANDARD: Werden Sie über Diesel irgendwann dasselbe sagen?

Formichetti: Nein. Wenn mir jemand vor einigen Jahren erklärt hätte, ich würde irgendwann bei Diesel landen, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Ich kannte damals niemanden, der Diesel trug. Die Marke war nicht sehr modeaffin und einfach zu kommerziell. Zu viele Logos, zu viele T-Shirts. Aber irgendwann hat es Klick gemacht. Ich wollte relevant sein, nicht mehr nur verrückte Dinge für verrückte Leute machen.

STANDARD: Wie für Lady Gaga meinen Sie?

Formichetti: Wenn Sie so wollen, ja. Heute ist meine Muse die Musikerin Brooke Candy. Sie ist komplett anders als Lady Gaga, aber sie hat die gleiche rohe Energie wie Lady Gaga in ihrer Anfangszeit. Fast niemand kennt Brooke Candy, aber ich bin sicher, dass sie eine große Karriere vor sich hat.

STANDARD: Bei Lady Gaga sorgten Sie dafür, dass Sie sich am Tag bis zu zwölfmal umzieht. Welche Strategie verfolgen Sie bei Brooke Candy?

Formichetti: Einmal am Tag reicht mir mittlerweile (lacht). Vielleicht zieht sie sich in Zukunft auch nur mehr einmal in der Woche um.

STANDARD: Kaum zu glauben.

Formichetti: Ich will nicht das noch einmal machen, was ich bei Gaga gemacht habe. Lady Gaga war eine Kunstfigur. Ein Stück Performance Art. Brooke ist schmutziger, sie bewegt sich gut, rappt ganz unglaublich. Damit arbeiten wir.

STANDARD: Bei Diesel arbeiten Sie mit Beyoncé. Sie haben gerade ihre Welttournee ausgestattet. Ist das wirklich das Maß aller Dinge, dass man als Modedesigner Celebritys ausstatten muss?

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Beyoncé bei einem Auftritt auf ihrer Welttournee im Diesel-Outfit.
Foto: AP/Rob Hoffman

Formichetti: Jeder macht das. Aber man muss es richtig machen. Dann bringt es sehr viel. Einfach nur eine Handtasche zuschicken reicht nicht, man muss wirklich das Erscheinungsbild mitformen.

STANDARD: Ohne Lady Gaga hätten Sie wahrscheinlich nie diese Karriere gemacht. War der Entschluss, nicht mehr mit ihr zu arbeiten, auch eine Art Emanzipation?

Formichetti: Ich hätte noch Jahre mit ihr arbeiten können, aber irgendwann wollte ich einfach mein Ding machen. Sie hat das auch verstanden.

STANDARD: Sie haben mit ihr modisch so ziemlich alles durchdekliniert. Von Botticellis Venus bis zum Kleid aus Fleisch.