Intensive Freiheit: Komponist und Pianist Georg Gräwe.

Foto: Porgy & Bess

Wien - "Wien als Wiege der europäischen Moderne - das hat mich schon als Teenager fasziniert. Tatsächlich hatte das meiste, was ich damals an Literatur, Philosophie und Musik verschlungen habe, mit Österreich zu tun: die Wiener Gruppe, Robert Musil, Wittgenstein, Wiener Kreis und Schönberg", so Pianist Georg Gräwe über seine Affinität zur Donaustadt, in der er nun schon einige Jahre lebt. Ein Glück für Wien. Gräwe, 1956 in Bochum geboren, ist einer der relevanten europäischen Pianisten mit Hang zur freien Improvisation.

Ob er nun solo auftritt oder im Trio, es fasziniert bei Gräwe die Fähigkeit, lineares, kontrapunktisches Denken mit markanter Dauerintensität des Ausdrucks zu koppeln: "Die ersten Pianisten, die ich in den 1970ern recht häufig hörte, waren Alex Schlippenbach und Fred Van Hove. Sie haben mich beeindruckt, da sie für mich ähnlich intensiv daherkamen wie Jimi Hendrix. Damit war bezüglich Intensität schon ein gewisses Ziel gesetzt." Es fallen bei Gräwe aber auch Einflussnamen wie Stockhausen und Boulez, deren Klangwelt war "ein starker Bezugspunkt", wobei da noch mehr war und zunächst aus dem Radio kam: "Es war in den 1960ern und 70ern ein wunderbares Medium, ich hörte die Popmusik der Zeit, dann mit zwölf besonders Hendrix und Cream, die mich zum europäischen Free Jazz führten."

Die Namensliste ließe sich um vieles ergänzen: Peter Brötzmann, das Globe Unity Orchester, Xenakis, Ligeti. "Erst danach hörte ich Schönberg und Strawinsky oder John Coltrane und Charlie Parker. Ich hörte also immer erst das, was gerade aktuell war, und erst später die historischen Vorläufer." Allerdings: "Schönberg und Coltrane - immer wenn ich nicht weiterweiß, befrage ich einen von den beiden. Häufig auch beide."

Jüngere Improvisatoren dürften mittlerweile auch Gräwes Kunst befragen, sollten sie einmal ratlos vor Fragen stehen. Er ist längst auch stilprägender Teil der freien Improvisationsgeschichte, ob durch sein Quintett aus den 1970ern, das GrubenKlangOrchester oder auch durch das Trio mit Ernst Reijseger und Gerry Hemingway, mit dem er am Mittwoch im Porgy & Bess gastiert.

"Komposition und Improvisation gehen für mich ineinander über - das eine existiert nicht ohne das andere. ,Komposition ist verlangsamte Improvisation' hat Schönberg gesagt, und selbst der frühe, ,serielle' Stockhausen träumte davon ,in Proportionsfeldern zu improvisieren'". Improvisation wäre somit die "höchste Disziplin des Komponisten - leider ist diese Fähigkeit bei den meisten der akademischen Komponisten verlorengegangen".

Gräwe erwähnt auch den Begriff "Instant Composing", den der holländische Pianist Misha Mengelberg geprägt hat. "Für meine größeren Ensembles schreibe ich sehr viel auf, aber im Trio mit Reijseger und Hemingway ist absolut nichts abgesprochen - war es nie und wird es auch nie sein! Das ist tatsächlich ,Instant Composing' im besten Sinne." In diesem Trio passiere Besonderes, "da wir uns nicht einig sind - im Sinne von konform. Jeder von uns ist mit vielen anderen, zum Teil konträren Dingen beschäftigt. Aber all diese Erfahrungen kommen im Trio in sublimierter Form zum Tragen. Und langweilig war das bisher nie. Wir treffen uns auf einem Terrain, das wir für die Dauer des Konzerts betreten und danach auch wieder verlassen."

Gerne auch einsam

Gräwe widmet sich aber auch der Einsamkeit ("Ich möchte im Spätherbst meine neue Solo-CD Stills and Stories herausbringen und dann auch solo spielen") und einem weiteren Trio. Jenes mit Bassist Peter Herbert und Schlagzeuger Wolfgang Reisinger "soll nächstes Jahr international aktiv werden, und dafür muss ich noch etwas komponieren. Außerdem plane ich ein Stück für Sopran und kleines Ensemble, das unterschiedliche Monologe Shakespeare'scher Frauenfiguren gegenüberstellt."

Und es entsteht eine Oper: "Sie wird auf Robert Musils Die Schwärmer basieren, aber damit werde ich mich wohl erst im nächsten Jahr eingehender beschäftigen können ..." (Ljubiša Tošić, DER STANDARD, 6.10.2014)