Thomas Melle, "3000 Euro." Roman. € 19,50 / 204 Seiten. Rowohlt.Berlin, 2014

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Beim Lesen von Thomas Melles Roman 3000 Euro muss man immer wieder an Kasimir und Karoline, Opfer der Wirtschaftskrise von 1929, denken: Auch Anton war, wie Ödön von Horváths trauriger Held, ein Chauffeur. Er verlor aufgrund einer "dummen nächtlichen Alkoholaktion" seinen Führerschein, und ohne diesen konnte er seinen Job als Taxifahrer nicht mehr ausüben: Anstatt etwas Sinnvolles zu machen, streunte Anton durch die Straßen, er "verlor schnell Rhythmus und Kontrolle".

Anton wurde zum Obdachlosen. Zu Beginn von 3000 Euro liegt er unter Flicken und Fetzen irgendwo im öffentlichen Raum: "Es riecht streng, nach Urin, nach Säure und frühem Alter." Penner würden uns, stellt der Erzähler fest, unangenehm berühren: Deren Humpeln wäre nicht nur "eine ästhetische Belästigung, sondern auch ein moralischer Vorwurf: Wieso bitte ist dieser Mensch so tief gesunken, welche Gesellschaft lässt einen derartigen Verfall zu? Das ist schon kein Mensch mehr, das ist ein Ding."

Melle, 1975 in Bonn geboren, moralisiert aber nicht vordringlich: Er erzählt in klarer Sprache und ohne Mitleid, eher mit Respekt von den Verlierern, den Hartz-IV-Empfängern, den Ausgestoßenen, den Randexistenzen, den seelischen Krüppeln. Von denen, die nichts mehr haben außer dem Schlaf und den Träumen. In jenen von Anton sind "alle Arschlöcher weg". Er träumt "alternative Versionen seiner Jugend: Das Personal ist zwar dasselbe, aber die Ereignisse sind komplett irreal. Er schläft mit den Mädchen, die er nie haben konnte, er rettet die Freunde, die nicht mehr Teil seines Lebens sind, er feiert die Erfolge, die er nie hatte."

Auch Denise, die Supermarktkassiererin, träumt. Sie wird zwar vom Nachbarn gewarnt, dass nicht das Leben das Problem sei, das Problem seien nur die Träume. Aber sie war eben noch nie in New York. Und das kann doch noch nicht alles gewesen sein: Denise lebt allein mit ihrer kleinen Tochter, die in der Entwicklung "hinterherhinkt". Sie betäubt sich mit Alkohol, sie schluckt Amphetamine, sie vergnügt sich mit zweifelhaften Männern. Und sie, die prollige Schönheit, drehte einen Porno. Nun, während sie Höllenqualen leidet, weil sie glaubt, von jedermann an der Kassa als "Nadine" aus dem Internet erkannt zu werden, wartet sie auf das Honorar. 3200 Euro sollen ihr überwiesen werden. Da kann sie lange warten, denkt man sich.

Einen ähnlich hohen Betrag, eben 3000 Euro, schuldet Anton der Bank. In zehn Tagen wird der Prozess stattfinden. So lange hat Anton Zeit, das Geld aufzutreiben. Und weil er im Supermarkt Pfandflaschen zurückgibt, lernt er Denise kennen. Melle hat seinen Roman wie einen Reißverschluss konstruiert: Konsequent wechseln sich Anton- und Denise-Episoden ab. Ihn interessiere "die Verzahnung des Einzelnen mit der Gesellschaft und mit dem Staat", sagte Thomas Melle bereits 2006 in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung.

Und er versteht die Spannung zu halten: Nur zögerlich erfährt der Leser mehr über die Gründe, warum Anton einen derart "ruinösen Sonderweg" einschlug, und wann die Weichen gestellt wurden, wo er, der Jura-Student und Musiker, "die Abzweigung genommen hat, die ihn nach und nach von den alten Freunden und Kommilitonen entfernte".

Zu Denise sagt der Gestrauchelte: "Vielleicht habe ich mir einfach selbst ins Bein geschossen und hinke jetzt so lange hinterher, bis alles verheilt ist." Anton startet mehrere, ehrliche Versuche, das Geld aufzutreiben. Aber er macht alles falsch. Der Ohrwurm Live ist Life von Opus hat sich in sein Hirn gebohrt, lässt für richtige Gedanken keinen Platz mehr. Man wünscht sich als Leser einen Deus ex Machina, einen Retter.

Möglicherweise erzählt der Autor, der seit 1997 in Berlin lebt, auch vieles aus seinem eigenen Leben. Denn lange Zeit hatte er als Dramatiker keine Erfolge, doch dann schrieb er gezielt das Stück Licht frei Haus, um einen Preis zu gewinnen, um nicht mehr als Werbetexter arbeiten zu müssen.

Die Rechnung ging auf: Mit seinem Debütroman Sickster (2011) schaffte Melle es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, mit 3000 Euro jetzt sogar auf die Shortlist. Für seinen Antihelden Anton aber wird sich die Wendung hin zum Guten nicht ausgehen. Das befürchtet man zumindest die ganze Zeit. Anton kann sich, wie bei Hebbel, gegen das Schicksal stemmen; das Mühlrad wird ihn trotzdem unter sich begraben.

Und Denise, die ehrbare Dirne, wird ihm nicht helfen können, auch wenn sie sich vornimmt, seine Schulden zu bezahlen. Aber wer weiß? Werden am Ende doch Träume wahr? (Thomas Trenkler, DER STANDARD, 4.10.2014)