Fredmund Malik zählt zu den renommiertesten Managementexperten Europas und ist Mitglied des Advisory Board der Drucker Society Europe.

Foto: Manu Theobald

"Sei dem Wandel stets voraus und gehe dafür über deine Grenzen hinaus!" Dieses strategische Grundmuster erkennt man bei erfolgreichen Menschen wie auch erfolgreichen Organisationen gleichermaßen. Statt zu warten, bis das Neue passiert, führen sie den Wandel aktiv durch Innovation herbei. Sie stellen sich nicht gegen den Wind, sondern nutzen ihn.

Als ich 1997 erstmals darüber schrieb, dass wir am Beginn der "Großen Transformation 21" stehen, war bereits klar, dass dieser Wandel die Wirtschaft und ihre Organisationen bis in ihre Kapillaren verändern würde. Dieser Wandel verändert auch die Menschen, deren Denken und Fühlen, ihre Zwecke, Ziele und Werte - und auch ihren Lebenssinn.

Bei der weiteren Ausarbeitung von Change-Szenarien wurde mir immer deutlicher, dass sich so gut wie alles verändern würde: Was wir tun, wie wir es tun und warum wir es tun - wie wir produzieren, transportieren, konsumieren und finanzieren; wie wir erziehen, lernen, forschen und innovieren; wie wir informieren, kommunizieren und kooperieren; wie wir arbeiten und leben. Und als Folge auch: wer wir sind.

Aber nicht Wandel schlechthin ist das Thema, sondern der ganz bestimmte Typ von Wandel, der das Bestehende durch etwas Neues verdrängt. In der Fachsprache nennen wir das Substitution. Ein historisches Beispiel einer Großtransformation ist der Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft vor gut 200 Jahren.

Aber auch in kleineren Dimensionen gibt es fortgesetzt Substitutionsprozesse, zum Beispiel die Ablösung des Pferdewagens durch das Auto zwischen 1890 und 1930 oder jüngst die Verdrängung der Analogfotografie durch die Digitaltechnik. Solche Substitutionsprozesse haben immer blühende, marktdominante Wirtschaftsimperien innerhalb kurzer Zeit irreversibel zu Fall gebracht, aber auch neue, noch weit größere hervorgebracht. Bekannte Beispiele sind Kodak, Nokia, Google und Apple.

Sie zeigen die eherne Logik einer Wirtschaft, in der es innovative Unternehmer und Führungskräfte gibt. Als erster und bisher einziger Ökonom hat der Österreicher Joseph Schumpeter (1883-1950) diesen Personentyp als die entscheidende Triebkraft in seine Theorien aufgenommen. Die Verdrängungsprozesse von Alt durch Neu nannte er "Schöpferische Zerstörung".

Damit zeigen sich Parallelen zur Evolution, zum Beispiel bei der Verwandlung einer Raupe zum Schmetterling. Dabei kann man auch ein Gesetz der modernen Systemtheorie beobachten, nämlich die Umdrehung der klassischen Kausalität: Nicht weil die Raupe untergeht, entsteht ein Schmetterling. Sondern umgekehrt: Weil der Schmetterling ins Leben will, muss die Raupe untergehen. Nicht von der Ursache kommt die Wirkung, sondern vom Ziel. Die Neue Welt ist in der Alten Welt schon angelegt. Darum geht man rechtzeitig über die Grenzen der Alten Welt hinaus. (DER STANDARD, 4./5.10.2014)