In der EU mangle es an Demokratie und Transparenz. Dieser Satz gehört zu den häufigsten und gängigsten, wenn Kritiker und Anhänger sich mit der Politik der Gemeinschaft auseinandersetzen. Solche Einwände haben durchaus ihre Richtigkeit. Die Entscheidungsmechanismen, die das Funktionieren zwischen Nationalstaaten, der EU-Kommission als Zentralbehörde und dem Europäischen Parlament (EP) garantieren, sind für einfache Bürger wahrlich nicht leicht zu durchschauen.

Man muss schon einigermaßen geübt sein, um die vielen Regelungen "aus Brüssel" oder "aus Straßburg", die demokratischen Fallstricke und Schlaglöcher, nachvollziehen zu können. Selbst Experten tun sich dabei manchmal schwer, auch wenn die wenigsten zugeben werden, dass sie das Dickicht der diversen EU-Verträge für 28 Staaten mit allen möglichen Sonder- und Ausnahmeregelungen nicht immer durchblicken.

Aber dennoch wäre eine Diagnose von der "minderen" Demokratie auf europäischer Ebene - im Gegensatz zur nationalen - ein unzulässiges Zerrbild. Schon gar nicht lassen sich brutale politische Kampfsprüche wie jene aus den rechts- oder linkspopulistischen bzw. -radikalen Parteien rechtfertigen, die die EU als "Diktatur" bezeichnen. So hat die Chefin des französischen Front National, Marine Le Pen, im Europawahlkampf vor fünf Monaten über die Union gesprochen. Sie will sie "von innen her sprengen". In Österreich segelte ihr Wahlplattformpartner FPÖ mit Heinz-Christian Strache gerne mit. Kompliziert bedeutet nicht gleich undemokratisch.

Dieser Tage kann man im EU-Parlament (so wie alle fünf Jahre) beobachten, dass es in manchen Bereichen sogar umgekehrt läuft: Nicht wenige Nationalstaaten, auch Österreich, könnten von Europa einiges lernen, was Kontrolle der Macht - sprich der Regierungen - und demokratische Transparenz betrifft. Dort müssen sich die künftigen Mitglieder der EU-Kommission den Fachausschüssen in öffentlichen Anhörungen stellen, die per Internet übertragen werden. Jeder Bürger hat also die Möglichkeit, sich ein Bild von jenen Personen zu machen, die in der EU-Zentralbehörde in den kommenden fünf Jahren Entscheidungen treffen. Neben diesen Hearings sind die Kommissarskandidaten aber auch verpflichtet, ihre Vermögensverhältnisse und die ihrer Partner, auch alle vorherigen beruflichen Tätigkeiten offenzulegen. Damit sollen Unvereinbarkeiten von vornherein ausgeschlossen werden.

Der Effekt dieser Übung ist aus demokratischer Sicht grandios: In Brüssel kann keine oder keiner Kommissar werden, wenn er oder sie im Vorleben irgendwelche dubiosen Machenschaften betrieben hat oder für seltsame politische Ansichten steht, die sich mit den Grundwerten der EU nicht vertragen. Der Verkauf von "verdächtigen" Aktienpaketen ist dann das Mindeste, wie man am künftigen Energiekommissar aus Spanien gesehen hat.

Ähnlich strenge Prüfverfahren für Regierungsmitglieder gibt es nur in den USA, wo Minister und der Präsident öffentlich "gegrillt" werden, bevor sie an die Macht kommen. In Europas Nationalstaaten reicht in der Regel die Ernennung durch König oder Präsident samt Bestätigung durch nationale Parlamente. Die Bürger lernen sie erst im Amt kennen. So ist es zumindest in Österreich. Das müsste nicht so bleiben: Warum sollen nicht nationale Parlamente einmal von Europa lernen? (Thomas Mayer, DER STANDARD, 1.10.2014)