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Staatschef Xi Jinping (3. v. li.), Exparteichef Jiang (Mitte) und Staatsspitzen beklatschen in Peking Xis "chinesischen Traum".

Foto: REUTERS/Rao Aimin/Xinhua

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Hongkongs Demonstranten haben andere Träume.

Foto: AP Photo/Vincent Yu

Im Stechschritt marschierte eine Ehrengarde mit mannshohen Blumengebinden den sieben mächtigsten politischen Würdenträgern des Landes und dem gesamten Politbüro voran. Angeführt von Staats- und Parteichef Xi Jinping gedachten sie mit einer Schweigeminute und Kranzniederlegung vor dem "Denkmal der Helden" auf dem Tiananmen-Platz der 20 Millionen Märtyrer in Chinas jüngerer Geschichte. So viele starben für die Revolution und für die Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober 1949.

Peking zelebrierte den neuen Gedenktag für Chinas Helden zum ersten Mal auf dem Platz des Himmlischen Friedens, einen Tag vor den Nationalfeiern. Der Aufmarsch der Parteiführer für die Märtyrer wurde am Dienstag live im TV gezeigt, der Bericht in fünf Sprachen übertragen. Alle sollten Zeugen der besonderen Standortbestimmung zum triumphalen 65. Geburtstagfest der Volksrepublik werden.

Rücktritt von Verwaltungschef verlangt

Doch die Welt schaute nicht hin, und schon gar nicht auf den Tiananmen-Platz. Hongkong stahl Peking die Show. Der dort seit fünf Tagen anhaltende Protestmarathon junger Demonstranten gegen die schleichende Aushöhlung der einst von Peking garantierten Sonderrechte für Hongkong (siehe Wissen) ging Dienstag in eine neue Runde. Tausende legten mit friedlichen Kundgebungen neben dem Regierungsviertel in der Innenstadt auch den Verkehr in weiteren zwei Distrikten lahm.

Hongkongs Demonstranten verlangen neben der Freiheit der Wahlen für ihre Regierung nun ultimativ auch den Rücktritt des Verwaltungschefs Leung Chun-ying. Der appellierte erneut an alle Beteiligten, ihre Proteste zu beenden, bevor noch mehr Schaden im "Alltagsleben" entstehe. Leung versicherte, dass es keine Armeeaktionen geben werde. Er und die Hongkonger Polizei hätten die Lage unter Kontrolle.

Das glaubt die Pekinger Führung nicht. Seit Tagen fühlt sie sich gedemütigt und immer mehr vorgeführt. Plötzlich gab es am Dienstag zwei Plätze, die um die Aufmerksamkeit konkurrierten: die Hongkonger Innenstadt und Pekings Tiananmen.

Böse Erinnerungen

Letzterer weckt im Ausland böse Erinnerungen an das Massaker des 4. Juni 1989, als Chinas Armee auf die für demokratische Reformen friedlich demonstrierenden Studenten schoss. Und die Furcht, dass es erneut passiert. Auch das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme", mit dem Parteichef Xi gerade um die Wiedervereinigung mit Taiwan wirbt, droht nun zu scheitern. Im Fall Hongkongs entwickelt es sich zu "Ein Land, zwei Welten", zwischen denen die Brücken abgebrochen werden.

Vorerst reagieren die Behörden mit Härte. Sie dehnten ihre schon verschärfte Internet- und TV-Zensur weiter aus. Doch Pekings Führer scheinen nicht auf einfache Entscheidungen aus zu sein, nachzugeben oder die Armee zu mobilisieren. Sie signalisierten auch, dass sie Lösungen suchen.

Partei schließt ihre Reihen

Parteichef Xi besuchte mit Mitgliedern seiner Führung am Montagabend ein Liederkonzert mit dem Titel "Wunderschönes China und sein großartiger Traum". Erst später wurde bekannt, dass er zu dem Konzert auch den mächtigen Exparteichef Jiang Zemin geladen hatte. Der 88-jährige Jiang saß neben Xi.

Zuletzt war Chinas Internet voller - unzensierter - Gerüchte, dass sich Xis Antikorruptionskampagne auch gegen Jiang richte. Nun schließt die Partei vor der Herausforderung durch Hongkong ihre Reihen. Sie gab am Dienstag auch den Termin eines für ihre Reformagenda wichtigen Sonderparteitags zur Entwicklung eines sozialistischen Rechtwesens bekannt. Er wird von 20. bis 23. Oktober stattfinden. Bis dahin muss Peking sein Hongkong-Problem friedlich gelöst haben, sonst demontiert es alle seine Reformen. (Johnny Erling, DER STANDARD, 1.10.2014)