Eine Best-of-Kolumne hat die schöne Aufgabe, die Perlen zu präsentieren - und in den über zwei Jahren des Bestehens dieser speziellen Indie-Auslese hat sich diese Aufgabe nicht gerade vereinfacht. Nicht nur, dass sozusagen die Tauchgründe enorm gewachsen sind - es gibt wohl heute mehr Indie-Spiele als je zuvor -, sondern auch die Qualität der unabhängig produzierten Titel hat sich rasant verbessert. Waren Indie-Spiele früher in der Regel das Werk von Einzelkämpfern in ihren sprichwörtlichen Bastelkellern, so hat sich die gesamte Gamesbranche grundlegend gewandelt: Mehr und mehr große Publisher setzen auf das aus dem Kino bekannte Blockbustermodell, beschränken sich auf wenige, richtig große Spiele und haben den eigenen Mittelbau im Gegenzug radikal abgebaut.

"Neue Indies"

Das Resultat: Viele ehemals im AAA-Bereich arbeitende Entwickler haben sich zum Teil freiwillig, zum Teil aus Notwendigkeit zu Indies verwandelt. Gemeinsam mit früheren Entwicklerlegenden, die per Crowdfunding ihren alten Fans Neuauflagen und Fortsetzungen alter Spiele schenken, bilden diese Profis die "Neuen Indies", die einerseits Professionalität und Qualität in für Einzelkämpfer schwer erreichbare Höhen treiben; andererseits sorgen sie auch dafür, dass sich die früher einmal als "Underground" gemeinte Alternative zum Mainstream qualitativ diesem immer mehr annähert - und dennoch Nischen bedienen kann, die den Großen zu klein erscheinen.

Die Verbreiterung zeigt sich aber auch in Bruchlandungen gerade eben besonders heiß erwarteter Indie-Hoffnungsträger: "Planetary Annihilation" (Linux, Mac, Windows, 27,99 Euro), nach langem Early Access Anfang September final veröffentlicht, enttäuschte sowohl Fans der "Total Annihilation"-Reihe als auch Echtzeitstrategen mit Lust auf Indie-Futter: Halb fertig sei der Titel, überraschend lust- und lieblos präsentiert und trotz langem Vorlauf noch kaum spielbar, urteilte die Presse einhellig. Auch das ebenfalls nach längerem Vorlauf final erschienene "Lichdom: Battlemage" (Windows, 36,99 Euro) steht nicht weiter unten bei den besten Indies des Monats, sondern wegen arg repetitivem Gameplay als Beispiel für nicht ausgeschöpftes Potenzial hier oben - schade, denn grafisch ist am Fantasy-First-Person-Zaubersprücheklöpfen wenig auszusetzen.

Doch das Leben ist zu kurz für nur halbgute Spiele - noch dazu wenn die Konkurrenz so hochkarätig ist. Hier ist sie, die Auswahl der besten Indie-Titel des vergangenen Monats.

Foto: Lichdom Battlemage

The Vanishing of Ethan Carter (Windows, 18,99 Euro; PS4 2015)

Die polnischen Entwickler The Astronauts, aus der früheren AAA-Schmiede People Can Fly hervorgegangen, liefern mit ihrem Indie-Erstling einen absoluten Pflichttitel für all jene, die sich für atmosphärisches und spannendes Erzählen interessieren - und das in einer Grafik, bei der einem der Mund offenbleibt. Schöner, atmosphärischer und beeindruckender waren 2014 nur wenige Spiele, noch dazu bei bescheidenen Hardwareanforderungen.

Die düstere Mystery-Thrillerhandlung führt die Spieler auf der Suche nach einem verschwundenen Kind durch einen verlassenen Ort am Rande eines Staudamms, wo sich einzelne Hinweise und moderat herausfordernde Rätsel zu einer stimmungsvoll überraschenden Geschichte verbinden. Ohne zu spoilern, nur so viel: "Alan Wake" trifft "Dear Esther" trifft "Among The Sleep" - und cleverer und atmosphärischer wurde in letzter Zeit selten erzählt. Da verschmerzt man auch locker, dass die Rätsel keine Originalitätspreise gewinnen und man sich als Spieler an manchen Stellen oft gar zu planlos durch den atemberaubend hübschen Wald schlagen muss. Egal: "The Vanishing of Ethan Carter" ist ein packendes First-Person-Abenteuer mit Horror- und Thriller-Elementen, das auch nach seinen etwa vier Spielstunden im Kopf bleibt. Allein wegen der spektakulären Grafik ist es aber eigentlich für alle Spieler einen Blick wert.

Foto: The Vanishing of Ethan Carter

Wasteland 2 (Windows, Mac, Linux, 39,99 Euro)

Da jubeln die allerältesten Spielefreunde auf: "Wasteland", die Rollenspiellegende aus dem fernen Jahr 1988, feiert dank Crowdfunding eine Wiederauferstehung. Der Urahn aller postapokalyptischen Rollenspiele, vor allem aber der populären "Fallout"-Reihe, entführt seine Spieler in eine atomar strahlende Zukunft voller Gefahren, aber auch überwältigender Komplexität. Die bequemeren Annehmlichkeiten, derer man sich vor allem in den jüngsten Ausgaben der "Fallout"-Reihe erfreute, sind hier zugunsten wahrer Oldschool-Realness Geschichte, und so müssen sich verwöhntere Spätgeborene auch in der Neuauflage des Klassikers mit so mancher umständlicher Gamedesigntradition erst wieder vertraut machen. Anders gesagt: Das Studium des Handbuchs und das Erlernen von Interface und Bedienung sind Pflicht, bevor sich die Faszination von "Wasteland 2" entfalten kann.

Dann aber geht’s los: Kaum ein "neues" Rollenspiel kann es in Sachen Epik, dichter Atmosphäre und vor allem Komplexität und Handlungsmöglichkeit mit der Oldschool aufnehmen. Neben "Divinity: Original Sin" heuer schon der zweite Beweis dafür, dass so manche längst in der Mottenkiste entsorgt geglaubte Spielmechanik noch quicklebendig ist und vor allem treue, aber auch neue Fans hat, die auf Casual pfeifen und die alte Härte wiederhaben wollen. Ein postapokalyptischer Gruß aus der Vergangenheit - die nötige Konsequenz und Toleranz für hier und da raue Ecken beim Spieler vorausgesetzt.

Foto: Wasteland 2

Train Fever (Windows, Mac, Linux, 24,99 Euro)

Freunde von "Transport Tycoon Deluxe" mussten zwar nicht ganz so lange auf Nachschub warten wie jene von "Wasteland", aber fast: Seit dem Transportmanagementklassiker von 1996 ist es, abgesehen von "Locomotion", dem Open-Source-Projekt "OpenTTD" und der Konkurrenzreihe "Sid Meier’s Railroad Tycoon" deprimierend ruhig im Land der Eisenbahnbaronsimulation. Das Schweizer Indie-Studio Urban Games schafft nun die von Fans dringend herbeigesehnte Abhilfe: In "Train Fever" erobert man ausgehend vom Jahr 1850 mit seinen immer moderner werdenden Zugstrecken und Fahrgerät aus 150 Jahren Transportgeschichte eine prozedural generierte, wunderhübsche Spielwelt, in der sich Spieler ihre ganz persönlichen Eisenbahnträume verwirklichen können.

Der Ausbau des perfekten Verkehrsnetzes steht und fällt mit den Wünschen der Bewohner der simulierten Welt, und so stellt sich dank verschiedener Stellschrauben, Warenketten und Verkehrsplanungen schnell die altbekannte "Nur noch fünf Minuten, Mutti"-Spirale ein. Mangels tatsächlicher Spielekonkurrenz verzeiht man "Train Fever" auch so manchen Performance-Einbruch, eventuell zu einfache Beginner-Schwierigkeitsgrade sowie das Fehlen mancher heiß ersehnter Gameplay- (AI-Konkurrenz!) oder UI-Elemente - doch die Schweizer Entwickler arbeiten mit Hochdruck an der Weiterentwicklung, die Stück für Stück per nachgereichtem Patch "Train Fever" perfektionieren soll. Optimistisch sei gesagt: Immerhin gibt es ja den Mythos der Schweizer Gründlichkeit ja nicht ohne Grund.

Foto: Train Fever

Endless Legend (Windows, Mac 29,99 Euro)

Und noch ein Klassiker-Erbe im glänzenden Indie-Gewand: Der Entwickler Amplitude Studios erhebt mit "Endless Legend", dem Nachfolger zum SF-Vorgänger "Endless Space", frech-souverän den Anspruch auf den 4X-Thron - Kenner wissen: Das Kürzel steht für die Spielelemente "eXplore, eXpand, eXploit, and eXterminate" und schier endlosen Spielspaß. Auch wenn mit "Civilization - Beyond Earth" ein wahres Schwergewicht des Genres kurz vor dem Release steht, überzeugt das Fantasy-Weltenbauen von "Endless Legend" doch mit erstaunlicher Eigenständigkeit und originellen strategischen Nuancen.

Umfangreicher Städtebau, reicher Forschungsbaum, Diplomatie und untypisch detaillierte rundenbasierte Schlachten, in denen das Terrain eine entscheidende Rolle spielt, ergeben im Verbund mit originellen Science-Fantasy-Fraktionen ein strategisches Gustostück von großer Spieltiefe und Langzeitmotivation - auch wenn die absoluten Schlussphasen so mancher epischer Partie vielleicht ein wenig im Kleinklein der Verwaltung unterzugehen drohen. Im Hinblick auf den makellosen Ruf des Entwicklers, was Weiterbetreuung, Wartung und auch Nachschub auch nach dem Release betrifft, können Strategiefreunde hier dennoch bedenkenlos zugreifen - der Genreprimus "Civilization" sieht sich hier auf jeden Fall keinem Jausengegner gegenüber.

Foto: Endless Legend

Hatoful Boyfriend (Windows, Mac, Linux 7,99 Euro)

Nach diesen vier Hochglanz-Indies, die vor wenigen Jahren noch die Releaseliste stolzer Publisher veredelt hätten, sei mit "Hatoful Boyfriend" ein bizarres Kuriosum als Abschluss der September-Auswahl gestattet. Was auf den ersten Blick wie ein oberflächlicher Gag erscheint - immerhin ist das jetzt erschienene internationale Remake sozusagen die finale Version eines Aprischezes aus dem Jahr 2011 -, entfaltet sich für Liebhaber abwegiger Unterhaltung zu einem wahren Meisterwerk an Narration mit den - klassisch eingeschränkten - Mitteln der Visual Novel. Japanophile Spieler wissen Bescheid, alle anderen können sich das spielmechanische Grundgerüst von "Hatoful Boyfriend" wie einen japanischen Highschool-Romanzenmanga mit "A, B oder C"-Entscheidungen an kritischen Handlungskreuzungen vorstellen - eine Mechanik, die dezidiert zum wiederholten Durchspielen ausgelegt ist.

Bizarr an "Hatoful Boyfriend" ist nun die Ausgangssituation: Als einzig menschliche Schülerin am St. PigeoNation’s Institute sind wir umgeben von - Tauben. Genauer: Taubenjungs. Klar, dass wir in den jeweiligen Spieldurchläufen das Herz des einen oder anderen gurrenden Traumboys erobern werden. Die romantischen, mysteriösen oder gar unheimlichen Verwirrungen, die sich aus dieser absurden Ausgangslage ergeben, lassen sich in wenigen dürren Worten kaum wiedergeben, nur so viel: Es zahlt sich erzählerisch durchaus aus, am Ball zu bleiben und dieses bizarre Experiment aus Nippon bis in seine letzten Untiefen zu ergründen.

Foto: Hatoful Boyfriend

Und sonst?

Klein, aber toll: Mit "Hexcells Infinite" (Windows, Mac, Linux, 4/4,99 Euro) liegt die ultimative Deluxe-Mutation des ollen "Minesweeper" in stylischem Minimalismus in Bestform vor - wer Puzzlespiele nur entfernt interessant findet, sollte sich mit diesem Prachtstück in Zen-gleiche Meditation versenken. Hektischer, aber ebenso minimalistisch entführt die iOS-Portierung des abstrakten Endless-Runners "Fotonica" der italienischen Indie-Styler Santa Ragione seine Spieler auf Bestzeitjagd.

Im First-Person-Explorer "Ultraworld" (Windows, 12,25 Euro) wandern wir gemütlicher durch eine bizarre Welt - das Werk des früheren Crytek-Entwicklers James Beech versteht sich als Gratwanderung zwischen begehbarer Kunstinstallation und Exploration-Adventure in schreiendem Neon. Fast nur in Schwarzweiß gruselt sich hingegen das handgezeichnete "Neverending Nightmares" (Windows, Mac. Linux 14,99 Euro) subtil in die Gehirne seiner Spieler - Freunde der gepflegten Gänsehaut sowie der Zeichentradition Edward Goreys werden mit diesem kleinen, aber bösen Spiel fündig.

Noch ein letztes Quartal ist für Indie-Freunde übrig - und auch abseits der verlässlich zum Weihnachtsgeschäft eintrudelnden AAA-Dinosaurier gibt es noch einige Indies mit Starttermin 2014. Man darf gespannt sein. (Rainer Sigl, derStandard.at, 30.9.2014)

Foto: Neverending Nightmares