Der Grenzstein am Sorgschopfen verbindet Jungholz mit Österreich.

Foto: Max Tauscher

Wer ins Tirolerische Jungholz will, kommt nur über das Allgäu dort hin.

Grafik: DER STANDARD

Jungholz - An die goldenen Jahre von Jungholz erinnert heute ein vertrockneter Gummibaum. Er steht auf schmutzigem rotem Teppichboden, ist durch die verschlossene Glastür das einzig sichtbare Relikt florierender Finanzgeschäfte, die einst neben ihm abgewickelt wurden. Im Juni schloss die Jungholzer Volksbankfiliale. "Ist zu", ruft nun auch ein Straßenkehrer und schaut, als könnte er es selbst nicht glauben. Es ist ja auch noch nicht lange her, da zählte Jungholz zu den reichsten Gemeinden Österreichs. Drei Geldinstitute auf nicht einmal dreihundert Einwohner ergab die bundesweit höchste Bankendichte. Bei Mammon, diese Zeiten sind vorbei, und so werden langsam auch die für ihre Verschwiegenheit bekannten Jungholzer geschwätzig.

Es hat ein Sauwetter in der sonst so idyllischen Kleingemeinde. Ein paar Häuser weiter sitzt Bernhard Eggel in seinem Büro und blickt mit ernster Miene aus dem Fenster. Seit 1983 ist er Klärwärter, seit 1992 Bürgermeister von Jungholz. "Na ja", sagt Eggel. "Man hat hier vorher leben können, man wird es nachher auch." Vorher. Damit meint er: vor dem großen Geldregen. Bevor man vor etwa dreißig Jahren erkannte, dass Jungholz der perfekte Bankenstandort ist, bevor die Gemeinde eine gemeinsame Vision hatte: Jungholz, das könnte das österreichische Liechtenstein werden.

Legenden über Rucksäcke voll Geld

Wenn Eggel von "nachher" spricht, meint er "heute" und die vergangenen Jahre. Seit es den Euro gibt und durch die EU sowieso alles strenger geworden sei und vor allem seit klar ist, dass das österreichische Bankgeheimnis gelockert werden soll. "Ich will nicht sagen, dass da irgendetwas Illegales passiert ist", sagt Eggel. "Aber heute gibt es schlicht keinen Grund mehr, sein Geld in Jungholz anzulegen."

Es sind düstere Legenden über Schwarzgeld und Schmuggel, Wanderer mit Rucksäcken voll Geld und Autos mit getönten Scheiben, die sich seit Jahrzehnten um die sieben Quadratkilometer bayerisches Tirol ranken. Jungholz ist keine gewöhnliche Gemeinde. Die österreichische Exklave liegt fast vollständig im deutschen Allgäu, ist an nur einem einzigen geografischen Grenzpunkt, nicht größer als eine Bleistiftspitze, mit seinem Mutterland verbunden. Da man es von Österreich aus nicht einmal über Wanderwege erreicht, sei 1997 das österreichische Militär in Deutschland "einmarschiert", erzählt Eggel - weil in Jungholz sechshundert Grundwehrdiener angelobt werden sollten.

Gezahlt wurde mit der D-Mark

Bis zur Euroeinführung war in der Tiroler Gemeinde die D-Mark das offizielle Zahlungsmittel. "Der Deutsche konnte bei uns in der geliebten eigenen Währung anlegen", sagt Eggel. Und das Geschäft mit den Steuerflüchtlingen lief blendend. Das sagt Eggel natürlich nicht. Bis zu 10.000 Euro darf man ohnehin ungemeldet über EU-Grenzen bringen. Die Gemeinde war noch dazu bereits viele Jahre vor dem Schengener Abkommen deutsches Zollanschlussgebiet. Wer heute die Grenze zu Jungholz überquert, findet dort kein stillgelegtes Zollhäuschen, sondern bloß das kleine blaue Schild mit den zwölf Sternen und der Aufschrift "Republik Österreich" am Straßenrand.

Durch die besondere Lage hat Jungholz eine weitere Eigenheit: den österreichweit höchsten Ausländeranteil - in der Tiroler Gemeinde leben mehr deutsche als österreichische Staatsbürger. "Tschühüss", ruft jemand von draußen in Eggels Büro. Die Kindergärtnerin, erklärt er. Die Spielgruppe ist im selben Gebäude untergebracht. "Bei uns wird zwischen den Nationalitäten kein Unterschied gemacht. So etwas wie Rassenhass könnten wir uns gar nicht leisten", sagt Eggel. Die Jungholzer Kinder besuchen Kindergarten und Volksschule in der Gemeinde. Danach gehen sie in Bayern zur Schule, lernen im Sachunterricht alles über den Bezirk Reutte, dem Jungholz zugerechnet wird, und in der Unterstufe die Liste der deutschen Bundeskanzler auswendig. "Das ist gelebte EU", sagt Eggel.

Man isst Kasseler und trinkt Schorle

Im Jungholzer Wirtshaus mit dem angeblich besten Mittagstisch wird Geselchtes unter dem Namen "Kasseler" verkauft, es gibt "Hähnchen" und "Schorle" wie auch "Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat". Am Tisch neben dem Eingang lösen die Wirtin und zwei Gäste gemeinsam ein Kreuzworträtsel. Wie das mit den Banken so war? Schulterzucken. Die Wirtin verzieht den Mund. Nach kurzer Zeit erzählen sie dann doch: Dass die deutschen Anleger zunehmend ausbleiben, schade auch der lokalen Gastronomie. "Früher kamen die, holten ihr Geld, blieben ein bis zwei Tage und haben zum Dank für den Reibach was in der Gemeinde gelassen", sagt einer der beiden Gäste.

Jungholz zählt heute zu den österreichischen Gemeinden mit dem niedrigsten mittleren Einkommen. Während in Spitzenzeiten die ansässigen Banken bis zu hundert Leute beschäftigten, würden dort heute gerade noch 30 Jungholzer arbeiten. "Auf sieben fette folgen eben sieben magere Jahre", bleibt Eggel pragmatisch. Man habe nun halt dieselben Probleme wie jede andere Kleingemeinde auch: Überalterung, zunehmende Abwanderung, ausbleibender Tourismus.

Gezwungener Imagewandel

Früher Geld wie Heu, heute Kraut gegen Geld ist quasi die neue Devise von Jungholz. Die Gemeinde müsse nun andere Wege einschlagen, sagt Eggel. Hinter der Kirche wurden Kräutergärten angelegt. Die Frauen im Ort würden nun Gewürze abfüllen, Tees zusammenstellen, Seifen ziehen, Kräuterbrot backen, Marmeladen kochen und Kräuterkäse herstellen - auf Wunsch auch gemeinsam mit den Touristen. Die Gemeinde bietet rund 450 Betten, hat sechs Skilifte und sei dadurch das "ideale Familiengebiet". Regelmäßig lädt das "Alpenkräuterdorf Jungholz" unter neuem Namen zum "Kräuter- und Handwerksmarkt" in die Gemeinde. Dadurch hat sich auch für Eggel einiges geändert: Über 13 Jahre lang saß er im Aufsichtsrat der Raiffeisenbank, nun ist er Schirmherr vom Kräuterfest. (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, 29.9.2014)