San Sebastián - Die gute Nachricht zuerst. Für die spanische Filmlandschaft, die aufgrund massiver Budgetnot um ihre Zukunft zittern muss, kommen die Juryentscheidungen beim 62. Filmfestival von San Sebastián einem kräftigen Lebenszeichen gleich. Der 34-jährige Carlos Vermut wurde für seinen Spielfilm Magical Girl nicht nur als bester Regisseur geehrt, er durfte auch die Goldene Muschel für den besten Film entgegennehmen.
Und die schlechte? Seine gallige Komödie zeichnet das Bild einer äußerst skrupellosen spanischen Gesellschaft. Wenn sich in diesem Film Lebens- und Leidenswege kreuzen, gibt es nur falsche Lösungen. Ein arbeitsloser Lehrer will seiner todkranken Tochter noch einen Wunsch erfüllen, das von ihr begehrte Feenkleid aus einem Manga erweist sich jedoch als zu kostspielig. Wie gut, dass ihn der Zufall ins Bett einer reichen Frau geführt hat, die er nun erpressen kann. Sie lässt sich dafür wiederum auf einen zwielichtigen Sadisten ein.
Man erkennt schon, Magical Girl setzt seinen Einfällen kaum eine Grenze. Als hätten sich Luis Buñuel und Quentin Tarantino auf ein szenisches Duell getroffen, treibt der Film die Handlung trocken in immer groteskere Bereiche vor. Vermut wendet dafür ein passend verzögertes Timing an, auch ein vom Altmeister José Sacristán mürrisch verkörperter Rachengel sorgt für Witz. Doch die allzu geschmeidige Oberfläche verdeckt auch etwas den Nihilismus dieses Planspiels.
Im ziemlich bunten und qualitativ unebenen Wettbewerb des baskischen Festivals gab es in Murieron por encima des sus posibilidades (Dying Beyond Their Means) von Isaki Lacuesta noch einen zweiten Film, der den auf die Wirtschaftskrise folgenden moralischen Verfall behandelte – noch ausdrücklicher, durchgeknallter und auch weniger kalkuliert.
Die erste Hälfte erzählt Lacuesta davon, wie sich einige Individuen nach dem Privatbankrott eines Kapitalverbrechens schuldig machen; die zweite davon, wie sie gemeinsam in Pandakostümen aus der Irrenanstalt ausbrechen, um sich den Vorstandschef der Zentralbank vorzuknöpfen. Der Charme dieses anarchischen Filmspektakels liegt nicht zuletzt darin, dass es sich auf die Seite des Volkes schlägt. Doch ohne dabei leicht verdauliches Kino zu servieren: Etliche der Dialogzeilen sollen real getätigten Politikerausflüchten ziemlich nahe kommen.
Auch außerhalb Spaniens stehen die Dinge nicht zum Besten. In Chrieg, einer der Entdeckungen des Festivals, erzählt der junge Schweizer Simon Jaquemet von einem renitenten Jugendlichen, der von seinen Eltern auf eine Hütte in den Bergen geschickt wird. Harte Arbeit, glauben sie, könnte ihn bessern. Auf der Alp halten sich allerdings schon drei andere Jugendliche verschanzt, die den Neuen zur Begrüßung demütigen.
Chrieg erinnert von der Ferne an A Clockwork Orange. Auch hier wird aus gewaltvollem Miteinander, in dem sich Geborgenheit ausbreitet, eine Gegenutopie zur Gesellschaft (im Tal) geformt. Jaquemets naturalistischer Stil – er hat mit Laien gedreht –, ein umsichtiges, auch in Gender-Aspekten stimmiges Drehbuch überzeugen. In einer Art Umkehrung des Heimatfilms erzählt der Film von aus dem Lot geratenen, kaum wieder zu kittenden Verhältnissen.
Risse des Krieges
Derartige Risse sind in Christian Petzolds Phoenix schon historisch bedingt. Dem Genre, vor allem dem Melodram näher als früher, entwirft der deutsche Regisseur die Geschichte der Jüdin Nelly (Nina Hoss), die nach dem Krieg aus dem KZ zurückkehrt. Sie erhält ein neues Gesicht und sucht in Berlin nach ihrem deutschen Mann (Ronald Zehrfeld). Als sie ihn endlich findet, sieht er in ihr jedoch nur eine Frau, die entfernt an Nelly erinnert. Auf Petzolds hochgradig verdichteten und dabei klar konstruierten Film wird man an anderer Stelle noch zu sprechen kommen. Wie es ihm in seiner letzten Zusammenarbeit mit Harun Farocki gelingt, in einer Liebesgeschichte von falschen Kontinuitäten, der Unsichtbarkeit der Überlebenden und moralischen Verfehlungen zu erzählen, ist jedenfalls außergewöhnlich.
Phoenix ging in San Sebastián ebenso leer aus wie der einzige Beitrag mit österreichischer Beteiligung, Casanova Variations. Die von Michael Sturminger schon im Theater aufgeführte Opernvariation wird als üppige, ausufernde Szenenfolge ausgetragen. Die Eleganz des Verführers (John Malkovich in allen Tonlagen) ist hier eine Spielart des Extravertiertseins: Es tönt die Musik auch noch im Gesichtsmuskel und in der überbeweglichen Kamera nach. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 29.9.2014)