Natürlich geht so etwas nicht von heute auf morgen: Der Nachwuchsliterat Christoph Strolz, gelernter Holzbildhauer und studierter Philosoph, ist der Gewinner des 14. FM4-Wortlaut-Literaturwettbewerbs. DER STANDARD ist Medienpartner.

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Zita Bereuter / Claudia Czech (Hg.), "FM4 Wortlaut 14. Haarig. Die besten Texte", 152 Seiten. Luftschacht-Verlag, 2014 (Vorwort: David Wagner, Illustration: Gerhard Haderer)

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Natürlich geht so etwas nicht von heute auf morgen. Solche Veränderungen vollziehen sich niemals schlagartig, und auch wenn ich weiß, dass man mit solchen Behauptungen sehr sehr vorsichtig sein muss: So ist die Welt wohl einfach nicht gestrickt. Vielmehr neigt sie zu fast unmerklich schleichenden Prozessen, zu ganz sanftpfotigen Bewegungen auf frisch gefallenem Schnee oder auf weichem, mit Wasser vollgesogenem Moos. Ich meine mich zu erinnern, dass ich es zuerst an meiner Kaffeetasse bemerkt hatte. Als ich sie eines Tages aus dem Geschirrspüler nahm und im Hängeschrank über der Spüle verstauen wollte, fühlte sie sich ein bisschen eigenartig an. Freilich nicht eigenartig genug, um der Sache augenblicklich auf den Grund gehen zu müssen. Nur eigenartig genug, dass ich mich ein ganz klein wenig bemühen musste. Sie kennen das vermutlich, wenn man scheinbar einen minimalen Widerstand überwinden muss, um einen flüchtigen, unstimmigen Eindruck zu ignorieren. Dieser Widerstand begann allmählich größer zu werden. Bis er sich schließlich zu einer solchen Hürde aufgebaut hatte, dass ich, als ich wieder einmal meine Tasse aus dem Geschirrspüler nehmen und im Hängeschrank über der Spüle verstauen wollte, nicht mehr umhin kam festzustellen: Ja, es ist so, selbst meine Schwester hält mich für ein Arschloch. Und ja, meine Kaffeetasse fühlt sich tatsächlich pelzig an.

Ich weiß, dass man erst recht mit solchen Behauptungen sehr vorsichtig sein muss, aber dennoch: Menschen neigen dazu, Eindrücke, die einfach nicht passen wollen, für eine Art von Täuschung zu halten. Sie gehen zunächst davon aus, dass etwas mit ihrer Wahrnehmung nicht stimmt. Und auf den ersten Blick schien es auch so, dass es wirklich an mir lag und nicht an den Dingen. Auf den zweiten Blick waren es dann doch die Dinge. Auf den dritten dann wieder ich.

Ich ging zum Fenster, hielt die Tasse ins grelle Sonnenlicht, doch ich sah nichts, nur spiegelnd blanke Keramik. Ich überlegte kurz, meine Tasse einfach wegzuwerfen, öffnete dann aber doch den Hängeschrank und stellte sie an ihren Platz. Am liebsten wäre mir gewesen, wenn ich sie versehentlich fallengelassen hätte. So wäre ich sie ein für alle Mal losgeworden und hätte mir dennoch nicht vorwerfen können, verschwenderisch zu sein. Doch es wäre ohnehin sinnlos gewesen, die Tasse wegzuwerfen. Denn dass sich bald auch mein Wasserglas, bald die Teekanne, irgendwann selbst die Furnierholzplatte meines Schreibtisches haarig anfühlte, sprach dafür, dass sich entweder etwas ganz Grundlegendes an der Beschaffenheit der Welt änderte oder etwas ganz Grundsätzliches mit meinem Tastsinn geschah.

Abwegig und beunruhigend

Es war zwar abwegig und beunruhigend, meinem Tastsinn nicht mehr trauen zu können, doch weniger abwegig und beunruhigend als der Gedanke, dass dem Kugelschreiber, der Fernbedienung, sämtlichen Türklinken und Altglasflaschen, ja selbst der Zellophanhaut noch ungeöffneter Versandkataloge feine Härchen gewachsen sind. Ich ging ins Arbeitszimmer, setzte mich zum scharfen Lichtkegel meiner Schreibtischlampe. Ohne viel Hoffnung betrachtete ich meine Fingerkuppen, sah wie erwartet nichts, nur Papillaren, nur die verschlungenen Irrwege eines Labyrinths. Doch selbst wenn ich etwas entdeckt hätte, selbst wenn ich bei genauem Hinsehen tatsächlich festgestellt hätte, dass mir feine Härchen auf den Fingerkuppen gewachsen sind. Was unterschied meinen Sehsinn von meinem vielleicht defekten Tastsinn? Was, wenn ich zwar auf meinen Fingerkuppen, nicht aber auf den Gegenständen feine Härchen entdeckt hätte, während in Wirklichkeit ... nein, ist ein diffuses Grundvertrauen erst einmal erschüttert, verliert von Wirklichkeit zu sprechen seinen Sinn. Es schien mir also recht schnell sinnlos zu fragen, woran es lag, wer objektiv eher Schuld hat oder hatte. Das hieß freilich nicht, dass es auch sinnlos war, nach einer guten Erklärung zu suchen, denn es gibt gute Erklärungen. Es gibt sie zumindest insofern, als dass sie besser als die schlechten sind. Ich vertrat fürs Erste den Standpunkt, dass es besser wäre, wenn nur etwas mit meinen Fingerkuppen nicht stimmte. Selbst heute würde ich wohl sagen, dass die beste Erklärung für die Pelzigkeit der Dinge eben jene ist, dass etwas mit meinen Empfindungen nicht stimmt. Nur bin ich längst so weit, mit allen denkbaren Erklärungen umgehen zu können. Dass ich heute nur noch ungern eine beste Erklärung nennen würde, liegt also einzig daran, dass es keine wirklich schlechte mehr gibt.

Das ist jetzt so. Das war anfangs anders. Als ich baden wollte, musste ich einsehen, dass meine Fingerkuppentheorie zu kurz griff. Denn nicht nur der Wannenrand, auf den ich meine Hände legte, sondern auch das Wasser in der Wanne, das mich aufnahm und umspülte, fühlte sich pelzig an. Ich lag im Wasser, wie betäubt von dieser warmen Weichheit. Ich ließ meine Wange die Wannenwand entlanggleiten. Ich leckte widerwillig über den verchromten Wasserhahn und war dann peinlich berührt darüber, dass ich das pelzige Gefühl auf meiner Zunge als angenehm empfand. Ich legte mich rücklings auf den Badezimmerboden. Ich legte mich bäuchlings aufs Parkett des Wohnzimmers, und während sich die Fliesenböden in Küche und Bad merkbar borstig, ja fast schon stachlig anfühlten, war das Parkett nahezu flauschig weich. Die Wände aller Räume hatten die Haptik eines Nerzpelzes, egal mit welchem Körperteil ich sie berührte. Das Ceranfeld in der Küche fühlte sich eher an wie die mit zartem blondem Flaum bedeckten Wangen mancher Frauen. Allem schien ein Fell gewachsen, das mich ebenso anzog wie anwiderte, nie gleichzeitig, immer abwechselnd, je nachdem, welche Assoziationen in mir hochstiegen: das zarte Unterfell einer Angorakatze. Das muffige Deckhaar eines nass gewordenen Hunds. Das Weiß frisch gepflückter Baumwolle. Die drahtige Achselbehaarung eines bettlägerigen Greises usw., usf.

Manchmal meinte ich, mich in einem Albtraum zu befinden. Dann wieder schien mir, dass die Welt ein irgendwie besserer Ort geworden sei und auch ich ein irgendwie besserer Mensch. Beides schien möglich, beide Deutungen bekämpften sich, ehe sie dann allmählich verblassten und ehe mir, ob nun wach oder träumend, klar wurde, dass sich weder an der grundsoliden Beschaffenheit der Welt noch an meinen beschränkten Möglichkeiten in ihr wirklich Entscheidendes verändert hat.

Lang und dicht

Ich sitze am Fenster, schaue nach draußen. Wolken ziehen vorüber. Blätter wiegen sich im Wind. Am Balkon des Nachbarn hängen Blumenkisten: Überdüngte Geranien, welkes Basilikum, verdorrter Thymian - irgendetwas beunruhigt mich. Ich kann mich nach wie vor recht frei bewegen. Wenn ich mir den Fuß an einem behaarten Tischbein stoße, so tut es nur einen Tick weniger weh. Sich zu rasieren ist nur einen Hauch absurder geworden. Die Luft wirkt manchmal etwas schwerer. Alles ist ein wenig kratzfester. Wasser perlt ein wenig anders ab. Die Sonne scheint wie eh und je. Was genau mich also beunruhigt, will ich am liebsten gar nicht wissen. Es ist nicht der Umstand, dass die Haare an den Dingen immer dichter und länger werden. So dicht und lang, dass ich immer einen leichten Widerstand wahrnehme, sobald ich mich bewege. So lang und dicht, dass sich selbst in den breiteren Räumen meiner Wohnung die unsichtbaren Haare, die links und rechts fast waagrecht aus den Wänden sprießen, sich in der Mitte des Raumes schon leicht berühren. Denn was mich beunruhigt, ist nichts Äußerliches. Ich habe nicht den Eindruck, dass mich irgendwas, das mir die eigene Haut zuverlässig vom Leib hält, noch wirklich beunruhigen kann. Vielleicht, versuche ich mir einzureden, sind nur ein paar Haare durch meine Nase, den Mund, die Ohren, die Augenhöhlen, den After oder die Harnröhre in mich hineingewachsen. Noch weigere ich mich zu glauben, dass das meine eigenen Haare sind, die mich innen zuwuchern werden, die sich nach innen gestülpt und sich gleichsam gegen mich gewandt haben und mich langsam immer weiter ausfüllen werden, solange bis ich innen vollkommen flauschig bin. (Christoph Strolz, Album, DER STANDARD, 27./28.9.2014)