Den Überlieferungen nach sahen manche noch die schreiende Menge vor sich. Andere sollen sogar den Versuch unternommen haben, letzte Worte zu artikulieren. Es heißt, es dauerte bis zu dreißig Sekunden lang, bis die Reaktionen abgetrennter Köpfe für immer verstummten. Ein abscheuliches Bild. Ebenso abscheulich wie die Unterjochung, die zum Nährboden dieser Vergeltung wurde: "Die Leute haben kein Brot? Sollen sie doch Kuchen essen!"

Auch ohne die Erfindung des Arztes Joseph-Ignace Guillotin wären im Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts die zehntausenden zum Tode Verurteilten ums Leben gekommen - noch auf weit schlimmere Weise. So steht das Fallbeil als Symbol für Unterdrückung und Aufstand, Terror und Revolution, Chaos und Neuordnung. Der harte Schnitt als Sinnbild für die Zäsur.

Protagonist Arno Dorian ist französisch-österreichischer Abstammung und will die Kräfte hinter der Revolution aufdecken.
Foto: Ubisoft

Die Anfangsjahre der Französischen Revolution zu skizzieren ist ein gewaltiges Unterfangen. Ihre Beweggründe sind so vielschichtig wie die involvierten Parteien. Die Ablöse des feudal-absolutistischen Ständestaats durch die aufklärerischen Werte, die schlussendlich in dem münden sollten, was heute unter Demokratie verstanden wird, erforderte auf allen Seiten einen hohen Blutzoll. Unmöglich, sich in die Lage der Unterdrückten und Verfolgten zu versetzen. Durch die Augen der Historiker betrachtet, scheinen die klaren Motive mit jedem neuen Puzzlestück undurchsichtiger zu werden.

Nicht Schwarz, nicht Weiß, sondern Schießpulvergrau und Dunkelrot: Das sind die Farben des Nests, in das der im November erscheinende Videospiel-Blockbuster "Assassin's Creed Unity" gebettet wurde. Die Vielfältigkeit der Revolutionszeit in den Weiten des bildschönen Paris wurde überdies gewählt, um einen Neuanfang zu zelebrieren. Es ist das erste Werk der Serie, das nur für die jüngsten Konsolen PS4 und XBO sowie PC umgesetzt wurde und Spieler in eine neue Generation überführen soll.

Ära des Fanatismus

Es ist eine Zeitreise in eine Ära der Extreme - in der die Umstände einen jungen Mann namens Arno Dorian zum Helden werden lassen. Französisch-österreichischer Abstammung erlitt er den Verlust seines Vaters und später seines Stiefvaters, was ihn in die Arme der Bruderschaft der Assassinen trieb. Hehren Zielen verschrieben, entschließt er sich, die wahren Kräfte hinter der Revolution aufzudecken. Eine Fiktion, die Spieler vorbei an den Schrecken dieser Zeit leitet und Arno in die Arme einer jungen Frau.

Die Einzelspieler-Kampagne schildert den Aufstieg des jungen Assassinen. Die erlernten Fertigkeiten nehmen Spieler in die diversen Multiplayer-Modi mit.
assassinscreedUK

"Vom Fundament her ist es eine einfache Vergeltungsgeschichte und eine Liebesgeschichte. Nicht wie bei 'Romeo und Julia', sondern ein moralisches Dilemma, eine Entscheidung zwischen Liebe und Pflicht. Eine unmögliche Entscheidung, eine Lose-lose-Situation", erklärt Alexandre Amancio, Kreativdirektor des Spiels, im Gespräch mit dem GameStandard. "Dazu baut es auf dem Thema Fanatismus auf. Wenn es zu Extremen kommt, wachsen selbst zwei politisch opponnierende Richtungen zusammen und werden eins. Fanatismus wird universal."

Die Geschichte einer sich verändernden Welt, die Digitaltouristen hinter die Kulissen des Aufruhrs blicken lässt. "Geht es wirklich um Freiheit fürs Volk oder die Geburt der modernen Welt?", so Amancio. Im Kampf gegen zwielichtige Drahtzieher wird selbst die Fassade der Aufständischen nicht unberührt gelassen. "Es geht schließlich auch um die Ablöse der Monarchie durch eine neue Führungsschicht: Die Bourgeoisie, die schlussendlich zur Finanzoberschicht wird und Menschen nicht durch Kontrolle, sondern durch Bedürfnisse beherrscht. Wenn du etwas möchtest, musst du dich versklaven und den ganzen Tag arbeiten, damit du es dir leisten kannst."

Paris Ende des 18. Jahrhunderts hat viele Gesichter. Die Geschichte schildert das Leid der einfachen Leute und die Aufstände genauso wie die Dekadenz des Adels.
Foto: Ubisoft

Vor fast vier Jahren, als die jüngste Wirtschaftskrise nach den USA ganz Europa erfasst hatte, wurden die Grundpfeiler für "Unity" errichtet. "Es sollte der Anfang eines neuen Zyklus’ und das erste kooperative Spiel der Serie werden. All diese Faktoren waren vom ersten Tag an bekannt. Und wir wussten von Beginn an auch, dass wir dies nicht für die letzte Konsolengeneration umsetzen werden können, da wir nicht bereit waren, Kompromisse einzugehen", sagt Amancio. Dass man dafür nach den Ausflügen mit den vorangegangenen Teilen nach Boston und in die Karibik wieder eine europäische Hauptstadt aufsuchte, habe zudem spielerische und technische Gründe.

Roi Des Thunes ist eine der vielen historischen Persönlichkeiten, die in die fiktionale Geschichte eingebunden wurden.
Foto: Ubisoft

"Wir wollten mit dem ersten Next-Gen-'Assassin’s Creed' zurück zu den Wurzeln kehren. Wir lieben die Schiffe in 'Black Flag', aber wir wollten lieber wieder beim Kernspiel ansetzen. Paris kam sehr rasch in die engere Auswahl. Es ist eine der meistbesuchten und mit Sicherheit eine der schönsten Städte der Welt. Und welche Stadt wäre mit den neuen technischen Möglichkeiten spannender umzusetzen gewesen als Paris? Die Stadt ist praktisch voll mit Monumenten und anders als in Rom sind diese auch noch intakt", so der Entwickler. "Danach haben wir uns die Geschichte angesehen und nach etwas gesucht, dass bereits 'Assassin’s Creed 1' ausgezeichnet hat: Menschenansammlungen. Damals waren 200 Menschen auf einmal auf dem Bildschirm. Mit 'Unity' wollten wir dieses Erlebnis auf eine neue Stufe heben."

Protestmärsche mit mehr als 5.000 Charakteren gleichzeitig ziehen durch das mit Hilfe antiker Pläne, monatelanger Recherchen vor Ort und unter Aufsicht mehrerer Historiker nachgebauten Paris. Jeder simulierte Passant verfügt über eine eigene KI und soll das Gefühl verleihen, Teil der Bewegung zu sein. "Die Französische Revolution hat sich dafür perfekt geeignet. Nicht nur, weil es damals regelmäßig zu großen Versammlungen kam, sondern weil dabei auch viel passiert ist. Es waren aktive, aufgeladene Menschenmengen." Mit Heugabeln und Fackeln bewaffnet, erzeugen sie in den engen Gassen und in den finsteren Durchgängen der Hauptstadt ein klaustrophobisches Gefühl.

Monumentale Spielwelt

In den Schuhen Arnos kann man dieser Beklemmung spielend entkommen, mittels einer leicht verfeinerten Steuerung noch rascher aus der Gosse auf die Dächer flüchten. Dort angekommen, werden einem die Ausmaße dieser Spielwelt bewusst, die nicht nur flächenmäßig die Inselschauplätze des Vorgängers "Black Flag" überragen, sondern erstmals auch Innenräume stärker ins Geschehen einbezieht. "Es ist nicht nur groß, sondern auch fast alles maßstabsgetreu. Diese Maßstabstreue hat einen nahtlosen Übergang zu Innenräumen ermöglicht", erklärt Amancio. "Zuvor wurde der Übergang durch Ladezeiten unterbrochen. Jetzt kann man einfach direkt in Gebäude hineingehen. Jedes vierte Bauwerk ist begehbar und teil der Geschichte. Das wäre sich mit den Speicher- und Prozessorlimitierungen der alten Konsolen nie ausgegangen."

Erstmals in der Serie wurden die Bauwerke maßstabsgetreu rekonstruiert. Für Notre Dame (ganz oben) benötigte eine Designerin fast ein Jahr.
Foto: Ubisoft

Wie aufwendig die Erschaffung der virtuellen Schönheit ist, für die die Überarbeitung des technischen Gerüstes für eine realistischere Beleuchtung und Animation nötig war, lässt sich am Beispiel der Kathedrale Notre Dame schildern. "An der Modellierung von Notre Dame (außen und innen) ist eine Künstlerin beinahe ein ganzes Jahr lang gesessen. Vollzeit. Jeden Tag, 9:00 bis 17:00 Uhr", so Amancio. "Die größte Limitierung für die neuen Konsolen sind tatsächlich nicht mehr die Hardware, sondern die Produktionskapazitäten - die Größe der Teams". Wie viele Menschen tatsächlich an "Unity" gearbeitet haben, könne er ad hoc nicht genau sagen. Nicht, weil der leitende Entwickler den Überblick über das eigene Projekt verloren hat, sondern weil weltweit zehn Studios von Herausgeber Ubisoft daran beteiligt waren. Der Nachbau von Paris wurde beispielsweise ob des Ressourcenbedarfs von Beginn an aufgeteilt. Die eine Seite der Seine durfte das Team in Montreal, die andere Seite des Flusses das Team in Toronto gestalten. Mit den restlichen Komponenten verfuhr man ebenso. Eine Parallelisierung, die immer mehr große Spielhersteller perfektionieren, um Großproduktionen schneller bewerkstelligen zu können.

"(Blockbuster-)Spiele für diese Konsolengeneration zu machen, ist eine harte Angelegenheit. Es ist wie ein Raumschiff auf dem Mond zu landen. Es gibt so viele Variablen zu berücksichtigen. Eine wirklich komplexe Arbeit. Und es braucht viel Leidenschaft. Das Pensum an Arbeit, das man investiert, ist so enorm, dass man die Arbeit lieben muss."

Spielerisch haben sich die Entwickler auf die Kernfähigkeiten der Assassinen fokussiert und diese um eine Rollenspiel-typische Individualisierung erweitert.
Foto: Ubisoft

Den Kontrast zu diesem Gigantismus moderner Spielentwicklung stellt die Fokussierung auf die spielerischen Kernelemente des Action-Adventures dar. Anstatt wie bei den vorangegangenen Werken das Gameplay durch komplett neue Elemente wie die Schifffahrt in "Black Flag" zu diversifizieren, hat man sich überlegt, wie man das Kampfsystem und die Charakterentwicklung ausbauen kann. Ersteres sieht nun einen umfassenderen Lernprozess für Fortschritte vor. Für Letzteres wurde der grundlegende Aufbau des Spiels geändert. Folgte man zuvor stets der Geschichte eines klar definierten Heldens, ist die Geschichte nun mehr als kontinuierliche Erfahrung zu verstehen. "Das Spiel handelt von Arnos Entwicklung vom Anfänger- zum Meisterassassinen. Aber dieser Einzelspielerpart ist nur ein Teil des Ganzen. Arno ist jetzt mehr wie ein Rollenspielcharakter. Seine Fortschritte und erlernten Fähigkeiten nimmt man in jedes Abenteuer mit", erläutert der Kreativdirektor.

Zentral in "Unity" sind die neuen kooperativen Missionen für bis zu vier Spieler. Das Video zeigt einen "Heist" in Aktion.
assassinscreedUK

Diese Weiterentwicklung kommt auch in den neuen Mehrspielermodi zum Tragen. Mit bis zu drei Freunden dürfen eigenständige Missionen wie der Diebstahl von Kunstschätzen aus einem Schloss in Angriff genommen werden. Dass man die Haupt-Story nicht gemeinsam bestreiten kann, liege an den unterschiedlichen Eigenheiten. Während Arnos Werdegang so ausführlich wie jener seiner Vorgänger erzählt wird, zielen die kooperativen Einsätze auf kurzweiligere Abenteuer ab. "Wir haben ziemlich bald festgestellt, dass die Koop-Erlebnisse eigenständig sein müssen, um Spaß zu machen. Die Zwischensequenzen sind kürzer und schneller geschnitten - fast wie Musikvideos. Wir haben festgestellt, dass es Spielern nicht gefällt, bei gemeinsamen Erlebnissen langen Zwischensequenzen zuzusehen."

Gemeinsames Verbrechen

Die Reduzierung des Gameplays auf den elementaren Mix aus blutigen Nahkämpfen und Angriffen aus dem Hinterhalt wird nicht jedem Spieler gefallen. Für viele Fans brachten die Schiffsschlachten genau jenen frischen Wind, den das Franchise nach einer Vielzahl Fortsetzungen und Auskoppelungen gebraucht hat. Doch die Entwickler sehen es anders: Im Zusammenspiel mit Freunden bedeuten selbst bekannt erscheinende Schleicheinsätze und Schwertkämpfe eine willkommene neue Herausforderung. Während des Probespielens eines "Heists" zeigte sich, dass es einer exakten Abstimmung bedarf, um Situationen nicht zur Eskalation zu führen. Während ein Zwei-Mann-Team sich über die Obergeschosse Zutritt verschaffte, versuchte es das andere Team über den Hintereingang des Palais'. Obwohl zu Beginn Wachen noch lautlos aus dem Weg geräumt werden konnten, mündete die Suche nach wertvollen Gemälden letztendlich in dem ein oder anderen chaotischen Gemenge. Ein Schlüssel für erfolgreiche Missionen sind dabei die gegenseitige Hilfe in der Not und der Einsatz der individuellen Spezialfähigkeiten, die sich zeitlich begrenzt auf alle Mitspieler übertragen. So kann ein Spieler etwa all seine Kameraden in Tarnkleidung hüllen. Ein anderer hat die Funktion, alle Gegner anzeigen zu lassen.

Die Erkundung der Spielwelt ist nach wie vor einer der großen Reize. Die Vertikalität öffnet gerade auch im Zusammenspiel die Tore für viele Herangehensweisen.
Foto: Ubisoft

Wie viel Spaß die Kollaboration auf Dauer macht, wird die finale Version von "Unity" zeigen. Beim ersten Anspielen fühlte sich Arno trotz einiger Detailänderungen bei der Inventarnutzung und Steuerung sehr vertraut an. Die Gegner gaben sich serientypisch eher opferbereit. Star des Spiels dürfte das mit sehr viel Liebe nachgeahmte historische Paris sein, in dem Fackelzüge die dreckigen Gassen erleuchten und sich am Himmel Vögelschwärme über die wütenden Bauern und den zitternden Adel dieser imposanten Gemäuer erheben. Die Verstrickung bekannter Persönlichkeiten wie Robespierre, den Marquis de Sade oder Napoleon hüllt die Fiktion in das bekannt epische Kostüm der Serie. Und bei all dem Schrecken und der Leichtigkeit des Todes, die den durch die Massen streifenden Assassinen umgeben, lässt sich in der Hochglanzinszenierung dennoch nicht das Gefühl verleugnen, dass der französische Hersteller dem Tourismus des eigenen Landes einen Gefallen erweisen wollte.

Ikonen der Vergangenheit wie Napoleon Bonaparte werden die Serie noch lange begleiten. Die Frage ist, was Fans spielerisch in Zukunft erwartet.
Foto: Ubisoft

Die Frage ist, wohin es danach geht. Wenn "Unity" den Neuanfang darstellt, wie wird die Serie in zwei oder drei Jahren aussehen? Eines sei laut den Schöpfern jedenfalls sicher: Während sich die Rolle des Protagonisten laufend geändert hat und dank des futuristischen Rahmens rund um die Zeitmaschine Animus theoretisch jede Fiktion plausibel wäre, wird der Kampf zwischen Assassinen und Templern bestehen bleiben. "Das ist der Klebstoff, der das ganze Franchise zusammenhält", betont Amancio. Die Grenzen zwischen Gut und Böse sollen allerdings weiter verschwimmen. In dem ebenfalls dieses Jahr erscheinenden Werk "Rogue" für PS3 und X360 wird man etwa erstmals aus der Sicht der Templer spielen können.

Der bisherige Verlauf der Serie legt nahe, dass wie bei "Black Flag" künftig abermals neue Spielelemente eingeführt werden. Aber erwartet Fans darüber hinaus vielleicht sogar ein gänzlich anderes Spielkonzept wie etwa ein Ego-Shooter? "Wir stellen uns oft die Frage, was passiert, wenn wir in eine Zeit fortschreiten, in der Messer obsolet werden, weil jeder über Pistolen verfügt", sagt Amancio. "Auf der anderen Seite sehen wir uns ikonische Action-Figuren wie Batman an. Batman lebt in einer modernen Welt, nutzt aber auch keine Schusswaffen, sondern das Element der Überraschung. Ich denke, wir werden immer Wege finden, das Core-Gameplay beizubehalten. Die versteckten Messer der Assassinen sind so charakteristisch, dass sie nicht mehr wegzudenken sind. Wenn wir jedoch einen Punkt erreichen, an dem wir feststellen, dass das Gameplay nicht mehr passt, werden wir uns etwas überlegen müssen." (Zsolt Wilhelm, derStandard.at, 28.9.2014)