Eine Terrormiliz, die auf ihrem Vormarsch eine Blutspur hinterlässt. Eine politische Entität, die Steuern einhebt, Dienstleistungen und Beschäftigung anbietet. Eine überterritoriale islamische Idee. Eine Gangsterbande, die Banken ausraubt, plündert und durch Kidnapping Lösegelder lukriert. Eine Mafia, die Schutzgeld erpresst und Schmuggel organisiert. Ein reicher Konzern mit Geschäftszweigen vom Öl- bis zum Antiquitätenhandel: Die Liste dessen, was der "Islamische Staat" (IS) ist, ließe sich lange fortsetzen. Mit allen eklatanten Widersprüchen: Auf der einen Seite das metaphorische "Mittelalter" - der Mann mit dem Schwert, der einem anderen die Kehle durchtrennt -, auf der anderen die Kommunikation dieses Akts durch moderne Medien. Aber eine Frage beschäftigt am meisten: Wie viel Islam ist drinnen, wo "Islamischer Staat" draufsteht?

"Gar keiner" ist die übliche Antwort islamischer Individuen und Gemeinden. Offiziell. Denn auch Muslime zeigen oft auf "den Wahhabismus" - eine herabsetzende Fremdbezeichnung für die lokale saudische Variante des Salafismus. Gemeint ist die im 18. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel entstandene puristische Bewegung des Muhammad Ibn Abdulwahhab. Aber es gibt auch noch andere Erklärungsmuster.

Sayyid Qutb 1965
Foto: Wikimedia Commons

"Salaf", das sind die frommen Altvorderen, die frühesten islamischen Generationen: Die Sehnsucht nach der Authentizität, nach dem - imaginierten - "reinen" Islam ist Merkmal des klassischen, eigentlich unpolitischen Fundamentalismus. Der Wahhabismus hatte jedoch früh eine aktivistische Note, für die sich freilich schon bei früheren islamischen Theologen, der wichtigste davon Ibn Taymiya (gest. 1328), Ermunterung findet. Aber bei der Geschichte der Arabischen Halbinsel setzt der Vorwurf an: Haben die Wahhabiten nicht schon Anfang des 19. Jahrhunderts Kerbala überfallen und Schiiten massakriert sowie in Mekka und Medina ihr Zerstörungswerk allen "Unislamischen" begonnen - das heißt, islamische Baukunst aus vielen Jahrhunderten vernichtet? Genau wie die IS im Irak?

Saudi-Arabien schlägt argumentativ zurück: Die 1928 in Ägypten gegründete Muslimbrüderschaft sei die Wurzel allen Übels. Waren es nicht die Ikhwan al-Muslimin, die aus dem frommen Salafismus, der nichts anderes als die Verbreitung des wahren "Monotheismus" im Sinn hatte, eine politische Bewegung gemacht haben, der die Staatsordnungen zersetzt? Wurde nicht Osama Bin Laden - die IS ist ja ein Abkömmling Al-Kaidas - von den Schülern des rabiaten ägyptischen Jihad-Ideologen Sayyid Qutb radikalisiert?

Explosive Mischung

Der offene Konflikt zwischen den beiden großen politischen Orientierungen des sunnitischen Islam, Salafismus und Muslimbruderschaft, ist ein Folgeprodukt der arabischen Revolten: Wieder geht es im Grunde um die Frage, wie oder von wem eine islamische Gemeinschaft zu regieren sei. Zum Jihadismus haben beide Richtungen ideologisch beigesteuert, gemeinsam ergaben sie die explosive Mischung. Es brauchte aber auch noch den politischen Nährboden und die strategischen Umstände: die Niederlage der arabischen Staaten gegen Israel 1967 und jene aller säkularen arabischen "Ismen", der saudisch-ägyptische Krieg im Jemen in den 1960ern, der zur Aufnahme verfolgter Muslimbrüder in Saudi-Arabien führte, der Krieg gegen die Sowjets in Afghanistan in den 80ern und das Ende des Ost-West-Konflikts, der Golfkrieg 1991 und so weiter. Und 2003 die Irak-Invasion, dazu später.

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1967: Israelische Soldaten erobern Jerusalem | 1988: Sowjetische Truppen ziehen nach dem erfolglosen Krieg gegen die Mujahedin aus Afghanistan ab | 1979: Der Islamische Revolutionsführer kehrt in den Iran zurück | 1991: Eine internationale Koalition unter der Führung der USA kämpft gegen den Irak
Foto: REUTERS/David Rubinger via The israeli Government Press Office, EPA PHOTO/AFP FILES/VITALY ARMAND, REUTERS/Andy Clark

Auch die Wirkung, die die Islamische Revolution von 1979 im schiitischen Iran auf die sunnitischen Islamisten hatte, darf nicht unterschätzt werden: einerseits als Inspiration und Vorbildwirkung (wenngleich natürlich nicht das schiitische Staatssystem betreffend), andererseits Abwehrreaktionen hervorrufend. Saudi-Arabien, dessen Führung von Revolutionsführer Khomeini als "antithetisch zum Islam" bezeichnet wurde, begann danach erst so richtig sein wahhabitisches Exportgeschäft, das ihm heute vorgeworfen wird.

Saudi-Arabien, wir kommen

Tatsächlich betrachtet Saudi-Arabien die IS als bitteren Feind - und umgekehrt. Unter dem Titel "Qadimun" (Wir kommen) laufen jihadistische Kampagnen gegen das Königreich. So unrealistisch das militärisch ist, Mekka und Medina gehört zweifellos zu den Traumzielen des von Abu Bakr al-Baghdadi (Ibrahim Awad al-Badri) errichteten "Kalifats". Die Kontrolle über diese Städte war immer gleichbedeutend mit islamischer Legitimation.

Traumziel von Abu Bakr al-Baghdadi: Die heiligen Stätten von Mekka (im Bild die Kaaba) und Medina.
Foto: Al Jazeera English/Fadi El Benni (CC BY-SA 2.0)

Saudi-Arabien führt heute eine durchaus glaubwürdige Kampagne gegen den Extremismus und hat auch - wie US-Experten attestieren - ernsthaft damit begonnen, die Kanäle, auf denen Geld zur IS und anderen radikalen Gruppen kommt, trockenzulegen. Wozu man in Riad jedoch nicht bereit ist, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen enggeführten salafistischen Tradition und den politischen Fehlern, die man in den vergangenen Jahrzehnten gemacht hat. Die schiitische Bedrohung überlagert alles.

Stattdessen wird auf PR gesetzt: Einen nicht neuen, aber im Westen weitgehend unbekannten Diskussionsstrang über die ideologischen Ursprünge der IS versuchte vor kurzem der saudische Thinktanker Nawaf Obaid einzuführen: In der New York Times sprach er den "fälschlich so genannten" Wahhabismus frei und erinnerte an die Existenz der "dritten Gruppe", die nach dem Tod des Propheten Muhammad nach 632 in die Debatte verstrickt war, wie der legitime Führer der islamischen Gemeinschaft aussehen sollte.

Die Kharijiten sind schuld!

Es handelt sich um die "Kharijiten", jene, die "auszogen" aus der Gemeinschaft - die aber ohnehin bereits in der Nachfolgefrage gespalten war, in das, was man heute Sunniten und Schiiten nennt. Die Anhänger der "Schiat Ali" (der Partei Alis, Cousin und Schwiegersohn Muhammads) setzten auf eine dynastische und damit religiös legitimierte Nachfolge, der direkten Nachfahren Muhammads, die Sunniten auf das Konzept eines "fähigsten Herrschers".

Die Dritten, die Kharijiten - aus deren Reihen 661 der Mörder Alis kam -, hatten tatsächlich einen radikalen Ansatz: Der beste Muslim musste es sein, nicht mehr und nicht weniger. Und wer dem nicht zustimmte, der war selbst kein Muslim.

Die Abschaffung der von Großbritannien und Frankreich aufgezwungenen Neuordnung des Nahen Ostens nach dem Ersten Weltkrieg ist Ziel der IS.
Foto: Paolo Porsia (CC BY-SA 2.0)

Das ist das viel zitierte Phänomen des "takfir": einen anderen Muslim zum Kafir, zum Ungläubigen, erklären. Die Jihadisten der IS sind "Takfiris", aber sie sind nicht die ersten. Auch die Extremisten in Algerien und in Ägypten in den 1990er-Jahren waren welche. Laut Nawaf Obaid sind Takfiris unvereinbar mit dem hanbalitischen - das ist eine der vier sunnitischen Rechtsschulen - Islam Saudi-Arabiens. Das Takfiri-Erbe Muhammad Ibn Abdulwahhabs, des puristischen Eiferers, mit dem ein gewisser Muhammad Ibn Saud 1744 einen Pakt schloss, der die beiden Familien bis heute vereint, beliebt Nawaf Obaid in seinem Artikel höflich zu verschweigen.

Islamische Versatzstücke

Es stimmt, dass man für fast alle der einzelnen Ideen und Praktiken der IS in der islamischen Geschichte Belege finden kann: Das macht die IS jedoch nicht zur natürlichen Fortsetzung einer etablierten islamischen Tradition. Die IS greift auf Versatzstücke zurück und baut etwas Neues zusammen. Die islamische "Authentizität" ist eine Fiktion - mit der aktuelle politische Fragen beantwortet werden sollen.

Diese haben unter anderem die USA geschaffen, mit der Eroberung des Irak im Jahr 2003. Das Kartenhaus Saddam Husseins wurde weggeblasen, die von ihm panisch aufrechterhaltene sunnitisch-arabische Identität des Irak durch eine irakisch-schiitische ersetzt. Der selbstbewusste Iran, das politische und intellektuelle Vakuum unter den Sunniten, der von ihnen verlorene Bürgerkrieg, ihre nächste Chance in Syrien, die Passivität des Westens: Die seltsame Obskurantentruppe, gegründet 2004 als Al-Kaida im Irak, krallte sich fest. Der Vergleich mit den Roten Khmer in Kambodscha liegt nahe. Auch dort spielten eine abstrakte Leit-Ideologie (der Kommunismus), konstruierte historische Bezüge und eine äußere Intervention eine Rolle in der Entstehungsgeschichte.

Die IS trifft nicht nur einen religiösen Nerv. Ihr Projekt der Abschaffung der von Großbritannien und Frankreich aufgezwungenen Neuordnung des Nahen Ostens nach dem Ersten Weltkrieg kommt für viele einem überfälligen antikolonialistischen Akt gleich. Frustrierte Subjekte der kaputten arabischen Nationalstaaten und Monarchien träumen vielleicht nicht so sehr von der Wiedererrichtung des historischen "Al-Sham" der frühen Kalifatszeit als einfach nur von der "Unabhängigkeit". Nur einmal nicht mehr Spielball fremder Mächte sein.

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Big Business - auch für Jihadisten: Ein Erdölfeld in Syrien.
Foto: AP Photo/Manu Brabo, File

Zum Schluss noch einmal zurück zum Big Business der IS: Matthew Levitt (Washington Institute for Near East Policy) schreibt, dass laut Daten des Pentagons nur ein Bruchteil des Einkommens der IS, die ihren Kämpfern die höchsten Gehälter aller Gruppen zahlt, aus Spenden kommt. Auf bis zu zwei Milliarden Dollar wird ihr Vermögen geschätzt. Allein 425 Millionen holte sie sich aus der Zentralbank in Mossul. Schutz- und Lösegelder, Übernahme von Vermögen Geflüchteter, Steuern, Verkauf von Erdöl aus den erbeuteten Feldern im Irak und in Syrien: Und wenngleich "unislamische" Bauwerke zerstört werden, so gilt das nicht für Objekte, die klein genug sind, um sich auf dem Kunst-Weltmarkt verkaufen zu lassen. Und zu solchen Geschäften gehören übrigens immer zwei. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 27./28.9.2014)