Aus gutem Grund hier als Emblem des Vorarlbergertums abgebildet: der randvolle Kässpätzle-Napf. Auch Exilvorarlberger reagieren bei dem Anblick mit Pawlow'schem Speichelfluss.

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Da kann der Kahlenberg einpacken: Im west-östlichen Erhebungsvergleich schneidet Hittisau im Bregenzerwald allemal besser ab.

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Abendstimmung am Bodensee: In dieses Gewässer brünzeln Bregenzer gerne, um sich von ihren Landsleuten abzugrenzen.

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So schnell kann das gehen. Kaum ist man in Bregenz geboren, und die Vorarlberger Landtagswahlen nahen heran, da wird man auch schon mit dem Arbeitsauftrag der Redaktion konfrontiert, man möge doch dem Rest der Welt schildern, wie es sich anfühlt, ein Vorarlberger zu sein. Eine gute und notwendige Fragestellung! Schließlich sind die Vorarlberger die mysteriöseste und daher erklärungsbedürftigste Erscheinungsform des Österreichertums (was immer nun das wieder sein mag), odr?

Bewohner (oder Abkömmlinge) eines Landes in exponierter Randlage, mit einer Exklave gar, dem Kleinen Walsertal, die auf dem Straßenweg nur von Deutschland her erreichbar ist. Und wie weit die Identifikation der Vorarlberger mit ihren alemannischen Verwandten im Westen geht, haben sie 1919 bewiesen, als 80 Prozent der Stimmbürger in den Post-Weltkriegs-Wirren für den Anschluss an die Schweiz votierten. Der kam dann allerdings nicht zustande, weil sowohl bei den Politikern in Bern als auch in Bregenz jedes Backing für den Anschlusswunsch fehlte und vor allem die Franzosen schnell einen Riegel vorschoben. Picken blieb das böse Bonmot vom "Kanton Übrig".

Ist man, wenn man Jahrzehnte in Wien gelebt hat, überhaupt noch Vorarlberger? Wahrscheinlich ließen sich Hardcore-Lokalpatrioten finden, die einem diese Eigenschaft absprechen, aber natürlich ist man es. Die in den bildsamen ersten zwei Lebensjahrzehnten erworbenen Gefühlsreflexe funktionieren jedenfalls bei jedem Heimaturlaub tadellos. Ehrfurcht beim Blick vom Pfänder über den Bodensee, Pawlow'scher Speichelfluss beim Anblick eines Kässpätzletellers und jenes gewisse Engegefühl, das sich einstellt, wenn manche Vorarlberger allzu offensichtlich ihrer Neigung zur prüfenden Observation ihrer Mitmenschen nachgeben. Das Netz der sich wechselseitig kontrollierenden Blicke ist enger geknüpft als in Wien. Bei polyglotten Freigeistern wie Hubert Gorbach provoziert so etwas schnell einmal ein "Too small"-Feeling. Klassisches Zwergenlandsyndrom!

Nichts Monolithisches

Wie immer, wenn sich jemand durch seine Zugehörigkeit zu größeren Einheiten definiert - Städten, Regionen, Nationen oder Kontinenten -, ist entscheidend, ob er dies in gutartiger oder übelwollender Absicht tut. Und wie überall sonst spannt sich auch in Vorarlberg der Bogen des Möglichen von sympathisch-selbstbewusster Bodenständigkeit bis zum bornierten Provinzialismus. Halten wir an dieser Stelle auch fest, dass das Vorarlbergische ja nichts Monolithisches, sondern in sich binnendifferenziert ist: Man ist Ober- oder Unterländer, Montafoner oder Wälder, und in meiner Jugend neckte man die Bregenzer, indem man sie "Seebrünzler" nannte, die Dornbirner hingegen "Süasslarschnitz".

Ich fühle mich definitiv als Bregenzer, aber diese lokalen Abgrenzungsspiele haben heute, wo jeder Hintertupfinger per Internet mit London und Los Angeles verbunden ist, etwas Altbackenes - und nicht nur des Internets wegen. Das Rheintal wächst seit langem zu einer Agglomeration zusammen, bei der sich mit bloßem Auge und ohne Kataster nur schwer sagen ließe, wo der eine Ort anfängt und der andere aufhört. Die Grenzziehung zwischen Seebrünzler- und Süasslarschnitz-Country ist fließend geworden.

Die meiste Zeit des Jahres bin ich mir meiner landsmannschaftlichen Herkunft so sehr bewusst, wie sich eine Birne ihrer Birnenhaftigkeit bewusst ist, nämlich gar nicht. Aber es gibt Momente, in denen man auf sein Herkommen gestoßen wird. Ein Klassiker ist das Gespräch mit dem Ostösterreicher, der mich nach ein paar Minuten Konversation mit dem Satz "Sie sind aus Vorarlberg!" entlarvt. Aha! Bemerkenswert, wie tief und schwer veränderlich die linguistische Sozialisation die Sprachwerkzeuge geprägt hat. Ich gehöre jenem Typus des Zugereisten an, der seit Jahrzehnten in der (Wiener) Fremde lebt und um der flüssigen Kommunikation willen stets sprachliche Anpassung betrieben hat (es gibt auch den Justament-Vorarlberger, der kein Jota von seinem Dialekt abrückt und dem Gegenüber quasi mit dem Füdla ins Gesicht fährt).

Aber für Hellhörige bin ich immer noch als Alemanne identifizierbar, obwohl ich im Gespräch mit einem Wiener eine gruusige Muus niemals als gruusige Muus bezeichnen würde, sondern stets von einer grausigen Maus spräche. Auch andere alemannische Sprachwahrzeichen, die es im Ausland zur Bekanntschaft gebracht haben, vermeide ich: das ominöse "gsi", das ans Satzende geklebte "odr" oder omnipräsente Verkleinerungsformen wie das "Hüsle" oder "Ländle". Kritikern gelten diese Diminutive generell als politisch verdächtig, weil sie vermuten, dass die real existierenden Machtverhältnisse, die es in Vorarlberg natürlich ebenso gibt wie überall sonst, unter dem Deckmantel der Putzigkeit verborgen werden sollen.

Betonpatschen im Bodensee

Es ergeben sich andere Anlässe, bei denen ich merke, dass ich Vorarlberger bin, wenn ich etwa eine Einladung bekomme, die mir aufgrund meiner landsmannschaftlichen Eigenheit zuteil wird: die Einladung zum jährlichen "Ball der Vorarlberger" (ignoriere ich, nicht weil Vorarlberger dort wären, sondern weil mir Bälle zuwider sind), oder die Einladung von Landeshauptmann Markus Wallner zum geselligen Beisammensein mit der in der Wiener Polit-, Kultur- oder Medienszene tätigen Vorarlberger Diaspora (nehme ich wahr, weil man dort auf die mit Abstand interessantesten Leute der Nation trifft). Zusammenkünfte wie diese nähren das Klischee von der "Vorarlberg-Mafia", aber ich bin mir sicher, dass fast noch nie ein Vorarlberger seine Feinde mit Betonpatschen im Bodensee versenkt hat.

Apropos Feinde: Die Zeit, da sich das Vorarlberger Selbstbewusstsein aus einer aggressiven Abgrenzung gen Osten gespeist hat, sind vorbei. Volksaufstände wie 1964 in Fussach, als die Wiener den Vorarlbergern das Bodenseeschiff Karl Renner aufs Auge drücken wollten, oder die abwegige "Pro Vorarlberg"-Bewegung der 80er-Jahre sind Schnee von gestern. Hilfreich war sicher, dass die Vorarlberger Profiteure der 1989-Öffnung sind und sich heute zu Recht als Bewohner einer von Mailand bis Stuttgart reichenden geografischen Hightechzone begreifen können. Was meine ostwestlichen österreichischen Gefühle angeht, so sage ich nur dies: Mir können Wiener genauso auf den Geist gehen wie Oberösterreicher, Steirer, Tiroler oder Vorarlberger; von der landsmannschaftlichen Zugehörigkeit einer Nervensäge abstrahiere ich mühelos.

Immer wieder werde ich mir dessen bewusst, dass mein Vorarlberg-Gefühl vor langer Zeit entstanden und somit ein Vorarlberg-Gefühl von gestern ist. Vorarlberg war schon vor Jahrzehnten multikulturell, aber die Multikulturalität meiner Nichten und Neffen ist eine andere, globalere als die meiner Jugend.

Die Sprache, die sie sprechen, ist kein genuines Vorarlbergerisch mehr, sondern ein von Social-Media-Jargons aus aller Herren Länder durchsetztes. Und wie gerne höre ich, dass sich die Vorarlberger Leitbetriebe auf den Weltmärkten auf eine Art und Weise durchsetzen, von der die Wiener nur träumen können. Das stimmt mich stolz, selbst wenn ich persönlich rein gar nichts dazu beigetragen habe. So durch und durch vorarlbergisch wie nach der Niederschrift dieses Artikels habe ich mich jedenfalls selten gefühlt. (Christoph Winder, DER STANDARD, 20.9.2014)