Letzte Woche fanden in Russland Regionalwahlen statt. Das soll aber nicht heißen, dass die Russen darauf brannten, ihr Wahlrecht auszuüben. Allein in Moskau lag die Beteiligung bei nur etwa 21 Prozent.

Laut Andrej Buzin von der unabhängigen Organisation Golos waren diesmal nicht einmal massive Wahlfälschungen nötig. Die Gründe dafür liegen nicht nur im Mangel an Konkurrenz (es wurden keine echten Oppositionskandidaten zugelassen), sondern auch in der unter Russen ständig steigenden Selbstgefälligkeit und Arroganz. Die meisten glauben, es sei lächerlich, sich anzustrengen, um wählen zu gehen, da das Resultat schon bekannt sei.

Wenn sie sich doch anstrengen wollen, dann haut es einen um. Zu den vielen Ereignissen meines Lebens, die mir in Hinblick auf mein Volk die Augen geöffnet haben, gehört auch die Präsidentschaftswahl im März 2012.

Ich war damals ein Wahlbeobachter voller Hoffnungen: Die Anti-Kreml-Aktionen hatten damals noch nicht an Schwung verloren und Meinungsforschungen zeigten, dass Wladimir Putin in eine peinliche Stichwahl gezwungen werden könnte. Die Realität im Wahllokal sah jedoch ganz anders aus, weil sogar sichtbar medienerfahrene Leute ihre Stimmen für Putin abzugeben schienen. Ich fragte mich, wieso. Nun gut, vielleicht vertrauten manche von ihnen wirklich auf Putin.

Aber man sah den meisten an, dass sie es komplett gedankenlos taten. Und niemand, von den Wahlvorstehern bis hin zu den Wählern, konnte glauben, dass ich kein Geld für meine Arbeit bekam, denn die ungeschriebene Regel in Russland lautet: Was deine Verantwortung vor dem Staat angeht, arbeitest du nur, wenn du bezahlt wirst. Die Leiterin meines Wahllokals machte daraus keinen Hehl: Ohne Bezahlung, sagte sie mir ernsthaft, würde sie bestimmt nicht ihre Zeit vergeuden.

Ruhe im Wohlstand

Das gilt auch im allgemeineren Sinn: Solange das Volk im relativen Wohlstand lebt, tut es, was ihm gesagt wird. Das ist übrigens einer der größten Unterschiede zwischen Russland und dem Westen. Russen streben sehr selten nach mehr, als sie haben. Manchmal ein Stück Land vielleicht. Das ist kein Witz, man braucht nur die zaristische und sowjetische Geschichte zu betrachten.

Man muss sich aber fragen: Warum sollte das Volk weitermachen wie bisher, wenn laut Prognosen die russische Wirtschaft aufgrund der Sanktionen des Westens und - was noch wichtiger ist - der Sanktionen von Russland selbst auf eine lange Krise zusteuert? Und das, obwohl die aktuellen Umfragewerte des Lewada-Zentrums zeigen, dass 71 Prozent der Russen einen Preisanstieg als ihre größte Sorge nennen.

Um diese Sachlage richtig zu beurteilen, muss man allem voran begreifen, dass die in Russland schon streng antiwestliche Stimmung von der Ukraine-Krise und den darauffolgenden Sanktionen nur erhöht wurde. Nun herrscht in Russland überall arrogante Angeberei: "Es gibt in unseren Geschäften keinen französischen Käse mehr? Umso besser, das gibt unserer Landwirtschaft Auftrieb, danke schön!"

Doch schon ein oberflächlicher Blick auf den Zustand der Verkaufs- und Logistikmechanismen in den russischen Provinzen beweist, dass das kein rationales, sondern ein emotionales Argument ist. Doch so funktioniert auch die Politik des Kreml.

Ausreden des Westens

Aber der Gedanke führt noch weiter. In den Köpfen sind die westlichen Sanktionen nicht das Ergebnis von Russlands Aktionen in der Ostukraine. Für sie klingt das nach einer Ausrede. Wir hätten dem Westen nie gefallen. Aber die Prognose, die der angesehene russische Ökonom Sergej Guriew im Gespräch mit dem liberalen TV-Sender Doschd zuletzt gegeben hat, ist wirklich beängstigend: Wenn es nicht bald eine Lösung in der Ukraine-Krise gibt, wird Russland bis 2018 das Geld ausgehen.

Auf der anderen Seite gibt es jetzt in der russischen Gesellschaft ein greifbares Vakuum. Die Russen sind nicht besonders gut in Vorhersagen. Dennoch war ich, als ich kürzlich in Moskau mit Freunden und Bekannten sprach, darüber erstaunt, dass sie Russlands aus Wirklichkeiten geformte Umstände nicht bestimmen konnten. Für die meisten ist es deutlich einfacher, überhaupt nicht daran zu denken. Wie die Ostukraine heute ein Niemandsland ist, so ist in Russland nun Niemandszeit. (Alexej Koroljow, DER STANDARD, 20.9.2014)